Als erfolgreiche Modedesignerin hatte Marianne – genannt “Marian”, geheimnisvoll und androgyn – alles, was sie sich wünschen konnte. In Angesicht der Wirtschaftskrise verliert sie alles, nicht nur ihr sprichwörtlich letztes Hemd und muss in ein dörflich gelegenes Haus am Wald ziehen. Es wird eine Reise von der Selbstverständlichkeit hin zur Dankbarkeit.
Es war einmal selbstverständlich, der Putzhilfe Geld dafür anzubieten, sich ein dem heimischen Dinner angemesseneres Kleid zu kaufen. Es war selbstverständlich, einer Diva der lokalen Theaterbühne für den Opernball ein Kleid auf den etwas üppigeren Leib zu schneidern. Selbstverständlich waren außerdem: Fußbodenheizung, Panoramafenster, Reisen, teurer Champagner, das Gefühl, zwar privilegiert, aber nicht unsäglich versnobt zu sein. Ein bisschen exzentrisch, aber nicht exaltiert. Wie brüchig und instabil all diese Selbstverständlichkeiten sein können, erfährt Marian nicht nur im Zusammenbrechen ihrer Partnerschaften, sondern auch im Zusammenbrechen der globalen Finanzwirtschaft. Stück für Stück verliert sie erst ihren eigenen Laden, ihre unnötigen Besitztümer, dann das Notwendigste, schließlich ihre Wohnung in bester Lage. Um sich nicht der Mildtätigkeit und Güte ihrer Freunde und Bekannten auszusetzen, flieht sie in den Wald. In eine Hütte der Tante, die die ihrer Tochter vererbt hat.
Sie schaute nicht mehr in den Spiegel, morgens nicht und abends nicht, sie sah sich nicht mehr, und damit sah niemand sie mehr, und so war sie quasi gar nicht da. Hätte Franz sie nicht zufällig gehört und gesehen, an diesem Februartag im Wald, wäre sie vielleicht tatsächlich nicht mehr da, nicht nur als Objekt keiner Betrachtung, sondern objektiv gar nicht mehr (…)
Franz ist ein, im wahrsten Sinne des Wortes, begüterter Grundbesitzer, der Marian beim Wildern im Wald erwischt. Er könnte sie anzeigen, entschließt sich aber letztlich zu einer anderen Art des Umgangs mit der Fremden. Gegen körperliche Dienste lässt er ihr Holz zukommen und Nahrung, eben das, was sie am nötigsten braucht. Das ungleiche Duo spielt sich ein und was Marian eingangs noch schwerfällt, gerät zu einer Gewohnheitssache, die ihren Schrecken verliert. Hier und da sprießen sogar Blüten der Zuneigung zu ihrem Wohltäter und Unterdrücker auf, er ist beides gleichermaßen. Zurückgeworfen einzig auf sich selbst – ähnlich vielleicht wie in Marlen Haushofers ,Die Wand’, auch wenn Marian eher eine ökonomische denn unsichtbare Schranke von ihrem alten Leben trennt – beginnt sie nicht nur, über ihr altes Leben zu entwickeln, sondern uralte Fertigkeiten neu zu erlernen. Sie kocht Marmelade ein, backt Kuchen und Brot, zieht Gemüse im Garten, nimmt Tiere aus. Sie spürt Freiheit und Stolz, statt Abhängigkeit.
Man glaubt gar nicht, was man alles selber kann, das man vorher nicht konnte. Oder glaubte, nicht zu können. Und deshalb wirklich nicht konnte, weil man vom Seelenheil über die Gesundheit und Fitness bis zur Nahrungszubereitung so viel wie möglich outsourcte.
Humorvoll und gestochen scharf in seinen Beobachtungen menschlichen Lebens und Handelns, erzählt Doris Knecht die Geschichte einer Wiederentdeckung. Der Wiederentdeckung des Einfachen und Gewöhnlichen; auch im Sinne täglicher Gewohnheit. Und das nicht innerhalb einer nach wie vor hektischen Alltagswelt, die das Ursprüngliche verzweifelt in einen Ablauf zu integrieren versucht, in dem es nicht vorgesehen ist – man denke an skurille Ernährungs – und Gesundheitstrends. Sondern in der umfänglichen Entschleunigung ihres Lebens. Doris Knecht romantisiert nicht, sie hebt keinen moralischen Zeigefinger, verdammt keine Lebensentwürfe zugunsten anderer. Sie stellt sie zur Diskussion in einer Weise, die Raum für eigene Gedanken bietet. Mit Marian hat Doris Knecht eine authentische Figur geschaffen, die sich vor dem Hintergrund zahlreicher Verluste selbst in Frage stellen muss. Was für eine Frau war sie einst und ist sie jetzt? Was für eine Mutter, wo der Kontakt zu ihrer Tochter doch auf ein Minimum reduziert ist? Knechts verschlungene Sprache ist immer nah an Marians Gedanken, Ideen, Entwürfen. Manchmal treffend bösartig, aber auch leise zweifelnd. Ein rundum gelungener, unterhaltsamer und intelligenter Roman!
Doris Knecht: Wald, Rowohlt Verlag, 272 Seiten, 9783871347696, 19,95 €
Pingback: [Literaturen] Doris Knecht – Wald - #Bücher | netzlesen.de