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Ayelet Gundar-Goshen – Löwen wecken

Bei einer nächtlichen Fahrt nach Dienstschluss überfährt der Neurochirurg Etan Grien mit seinem Jeep einen illegalen Einwanderer. Die Überlebenschancen sind gering und so verlässt er den Ort des Geschehens, ohne den Unfall zu melden oder die Behörden zu informieren. Was dann folgt, wird sein Leben und seine Sicht über sich selbst grundlegend ändern. Ayelet Gundar-Goshen erzählt in ihrem zweiten Roman eine ungewöhnliche Geschichte, die auch politische Themen berührt.

Etan Grien ist erfolgreich, glücklich verheiratet und Vater zweier Kinder. Nichts in seinem Leben ist besonders außergewöhnlich oder bemerkenswert, bis er eines Nachts mit seinem Jeep noch eine Fahrt hinaus in die Wüste unternimmt und dabei einen Eritreer übersieht, der ihm unversehens vor die Motorhaube läuft. Etan kann nicht mehr reagieren, der Mann ist so schwer verletzt, dass selbst eine schnelle Operation ihn nicht mehr retten könnte. Etan weiß das, er ist Neurochirurg, er weiß, wie die Chancen stehen, in so einem Fall zu überleben. Also entschließt er sich, fassungslos und unter Schock, wieder in den Wagen zu steigen und die Sache zu vergessen.

Und wenn der liegende Mensch kein Mensch mehr ist, dann ist kaum auszudenken, was mit dem stehenden, bebenden Mann wird, der sich nicht einmal überwinden kann, einen Schritt fertig zu tun. Was mit ihm wird.

Seiner Frau Liat erzählt er nichts, als er zu ihr ins Bett steigt, niemandem gegenüber erwähnt er den Toten. Den Mann, den er überfahren und liegengelassen hat. Er, der Arzt, dessen Berufung es ist, Leben zu retten. Er, der sich das selbst niemals zugetraut hätte. Doch plötzlich steht die Witwe des Getöteten vor seinem Haus und bittet ihn als Gegenleistung für ihr Schweigen um einen ganz besonderen Gefallen. Sie will ihn für ein “Krankenhaus” in einer leerstehenden Werkstatt, in der er Illegale mit teils massiven und lebensgefährlichen Verletzungen behandeln soll. Die Fassade seines Lebens beginnt zu bröckeln, das Fundament der glücklichen Familie bekommt Risse, als Etan immer öfter von zuhause wegfährt, Lügen erfindet. Eine harte Zeit der kräftezehrenden Doppelbelastung beginnt, in der er, noch immer unbemerkt von seiner Familie, sowohl im Krankenhaus auf der neurologischen Station als auch nachts in der Werkstatt arbeitet. Was er dort sieht, übersteigt seine Vorstellungen. Das Elend eines Lebens, das von niemandem bemerkt wird, weder während es ist noch während es endet, lässt ihn ausgelaugt zurück. Und dennoch: Für ihn sehen alle Eritreer gleich aus, gleiche abgezehrte Gesichter und leere Augen. Einzig Sirkit, die Frau des Mannes, den er tötete, weckt in ihm etwas. Verlangen, Mitgefühl, Wut. Was er zu diesem Zeitpunkt nicht weiß: Er hat mit dem Unfall einen Drogendeal vereitelt.

Man arbeitete schwer. Flog ins Ausland. Sorgte für eine ausgeglichene Bilanz von Schuldgefühlen und Begehrlichkeiten, eine Seelenwirtschaft, in der es keine Stürme und keine überzogenen Konten gab. Vor der Haustür lag ein verrückter Staat. Nicht nur die Araber und die Siedler und die Soldaten.

Ayelet Gundar-Goshen schreibt über das individuelle Schicksal eines Mannes, der in sich ein Raubtier entdecken muss, das er dort nicht vermutet hätte. Der zwar kraft seiner medizinischen Ausbildung viele Regungen neurologisch analysieren, aber nicht erklären kann, was ihn in dieser Nacht zur Flucht veranlasst hat. Eine fein konstruierte Diskrepanz zwischen profundem Wissen und Machtlosigkeit – trotz alledem. Als israelische Autorin schreibt Gundar-Goshen auch über die tief verwurzelten Feindschaften und Vorurteile innerhalb der Bevölkerung, gegenüber Arabern, Frauen, Illegalen. Araber werden oft genug bereits an ihrem Musikgeschmack oder ihrer Kleidung zweifellos als solche erkannt und gemieden. Wer in ärmeren Randvierteln oder Dörfern aufwächst, muss sich anpassen und gegen die Herkunft ankämpfen, die er mit sich trägt. Das haben Liat und Sirkit gemeinsam, beide Flüchtige, wenn auch auf verschiedene Weise und von verschiedenen Orten. ,Löwen wecken‘ ist ein Roman, den man auf vielerlei Art lesen kann. Als Thriller, der sich viel Zeit für Charakterentwicklung und Rückblenden nimmt, als Gesellschaftsroman, als Schicksal eines Einzelnen. Wie man den Roman auch liest, – es eröffnet sich ein fein komponiertes und psychologisch ausdifferenziertes Bild, in dessen Zentrum eine bedeutsame Frage ruht: Wie viel ist ein Menschenleben wert? In einem Interview, das dem Buch im Anhang beigefügt ist, erklärt Ayelet Gundar-Goshen

Als ich noch als Zeitungsredakteurin gearbeitet habe, wurde jeder Beitrag daran gemessen, wie viel Realität man den Lesern beim Morgenkaffee zumuten kann. Solange der Leser sein Müsli herunterbekommt, macht die Zeitung einen guten Job. Als Schriftstellerin lege ich es darauf an, dass die Leser ihren Kaffee über den Tisch spucken.

Fraglos gelingt es der Autorin auch in ihrem zweiten Roman (ihr Debüt ,Eine Nacht, Markowitz‘ war bereits sehr erfolgreich) einen unverstellten und authentischen Blick auf menschliche Schicksale zu werfen. Ein lesenswertes, wenn auch nicht eben leicht verdauliches Buch, das deutlich mehr interessante Fragen aufwirft als es Antworten liefert. Und vielleicht ist gerade das die größte Qualität: Keine einfachen Antworten zu haben.

Ayelet Gundar-Goshen: Löwen wecken, aus dem Hebräischen von Ruth Achlama, Kein & Aber Verlag, 432 Seiten, 9783036957142, 22,90 €

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