Das Tagebuchschreiben hat seit jeder eine ordnende und strukturierende Funktion. Die Kümmernisse und Gedanken des Tages zu hübschen Worten zu verarbeiten, hat schon so manchen Schatten schrumpfen lassen. Gut, ich gebe zu – nicht immer sind die Worte so hübsch, nicht immer die Themen von allgemeinem Interesse und doch gibt es etwas, das an Tagebüchern schon seit Jahrhunderten so anziehend ist. Michael Maar geht dieser Frage mit Verve und einem unglaublichen Fundus im Gepäck nach; in seiner famosen Diarismusexpedition namens ,Heute bedeckt und kühl.’
23.11.2014 10:30 Uhr
Fiel mir doch eben wieder dieses Buch in die Hände, das ich vor einigen Wochen aus der Bibliothek mitgenommen habe. Es war wie es ja immer ist: Der Lesehungrige betritt den Supermarkt und kann sich eben nicht bloß sattsehen, er muss sich sattleihen. Irgendwann wird sich schon eines dieser ominösen Zeitfenster öffnen, von denen immer die Rede ist. Die ein oder andere Seite kann nicht schaden.
23.11. 12:00 Uhr
Mit etwas gedankenumwölkter Stirn sehe ich gerade, dass ich eine komfortable Art des Zeitreisens entdeckt haben muss. Mehr zufällig, als ich mit einem Buch in der Hand auf der Couch lag. Fantastisch! Frage mich gerade, warum ich aufgehört habe, Tagebuch zu schreiben. Erinnere mich wieder daran, als von Anaïs Nins sehr freier Auslegung der Wirklichkeit die Rede ist. Ein Tagebuch kann immer eine sehr herzliche Einladung zur Selbstinszenierung sein. Die habe ich genutzt, als ich vierzehn war.
23.11. 14:00 Uhr
Lese, das Thomas Mann seine Unterhosen zu klein waren und ihm das ernsthafte Probleme bereitet, körperlicher wie psychischer Art. Spüre einen Anflug von Hunger, den ich zugunsten der Lektüre unterdrücke. Frage mich, ob so ein Telegrammstil sich hübscher macht. Lese, wie Michael Maar die Überzeugung kundtut, wer Manns Tagebücher nicht gelesen habe, verpasse mithin doch das Beste von ihm. Esse unterdessen eine Kleinigkeit. Ruhe fünf Minuten. Werfe die Kaffeemaschine an.
Nein, das ist nicht die Dichterin Else Lasker-Schüler. Es ist aus dem Reisetagebuch Walter Benjamins. Dieser – trotz Aurakitsch – bildmächtigste und ungewöhnlichste deutsch-jüdische Essayist und Kritiker, der sich 1940 auf der Flucht vor den Nazis im spanischen Grenzort Portbou das Leben nahm, war schlechterdings nicht in der Lage, auch nur für eine Sekunde unter sein Niveau zu gehen.
23.11. 16:15
Es wird langsam dunkel draußen. Wühle mich durch persönliche Angelegenheiten von Sylvia Plath, Virginia Woolf, Walter Benjamin, Robert Scott, Max Frisch, Susan Sontag. Stoße auf einen Tagebuchauszug John Cheevers, bin ungemein begeistert bis betört von dieser unmittelbaren Sprache und Wucht. Der Kaffee fließt, der Magen knurrt. Unmöglich kann ich aufstehen und die Lektüre beenden! Jubiliere und freue mich für einen kurzen Moment an der Einsamkeit, die mich umgibt und der unumstößlichen Tatsache, dass ich nie in Gefahr gerate, plötzlich Gäste vor der Tür zu haben. Nicht auszudenken! Lese, dass Andy Warhol jeden Tag mit seiner Sekretärin telefonierte und sie über alle Kleinigkeiten der vergangenen Nacht in Kenntnis setzte. Glücklicherweise klingelt mein Telefon jetzt nicht.
23.11. 18:30
Stockdunkel. Habe mir kurz erlaubt, das ein oder andere zu essen, während Maar von historischen Tagebüchern spricht. Anne Frank, Victor Klemperer, Walter Kempowski. Die Möglichkeit, Geschichte auf ganz andere, persönlichere Art zu entdecken. Kurz den Kloß im Hals runterschlucken, als Klemperer sämtliche Maßnahmen zur Drangsalierung der Juden aufzählt, vom Verbot Rad zu fahren und Zucker zu erwerben bishin zum Judenstern. Tagebücher sind Zeitzeugenberichte, sind nicht Fiktion, nicht geschickte Lüge oder Märchen, – sie gehören realen Menschen der realen Welt. Tagebücher – ein Mittel gegen akute Fiktionsmüdigkeit, denke ich noch.
23.11. 20:00
Ich klappe, zufrieden und satt, die Buchdeckel zu und atme durch. Bin begeistert von der Fülle und Vielseitigkeit dieses Buches, möchte am liebsten unzählige Tagebücher lesen. Weiß, dass ich das nicht schaffe. Weiß, dass Tagebücher, neben der Ordnungs – und Rechenschaftsfunktion für den einzelnen einen sehr persönlichen Vorteil haben: Sie befriedigen das sehr menschliche Bedürfnis nach Zusammengehörigkeit und Vergleich. Und lassen einen unversehens bemerken, dass man nicht der einzige ist, dem die Unterhose gelegentlich kneift (auf vielerlei Ebenen, versteht sich!), der wegläuft, obwohl er bleiben sollte, der manchmal furchtbar gehässig und neidisch oder eifersüchtig ist. Man muss eben nur genau hinsehen. Insofern: Sind Tagebücher irgendwie auch ein Licht der Menschlichkeit im Optimierungswahn der Zeit.
Mich plagt irgendein Kreislaufleiden, ein Whiskeydurst und das bittere Rätsel meiner Ehe. Alle drei gehen Hand in Hand. (John Cheever)
Könnte man mal schreiben: Statt “So gelingt Ihnen alles, was sie sich vornehmen” lieber “Sich erfolgreich im Tagebuch selbst begegnen.” …und verschämt ganz kurz Hallo sagen.
Michael Maar: Heute bedeckt und kühl – Große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf, Verlag C.H. Beck, 259 Seiten, 9783406653537, 19,95 €
Eine weitere Rezension findet sich bei 54books.
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