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Richard Lorenz – Amerika Plakate

Es gehören Mut und Phantasie zu einem Roman, der sich jeder konventionellen Erwartung verweigert. Dessen Erzählstränge manchmal dem Straßennetz einer Großstadt gleich kreuz und quer verlaufen, in dem die Realitäten übereinanderliegen und sich gegenseitig immer wieder sachte streifen. Richard Lorenz, der bereits Erzählungen veröffentlichte, geht mit seinem Debütroman Amerika-Plakate dieses Wagnis ein. Romane nach Schema F gäbe es ja bereits genug, sagt er.

Amerika gilt als das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Was man hier nicht schafft, gelingt einem nirgendwo. Hier stehen Traumfabriken und liegen Slums, hier scheinen vergöttert und vergessen nur wenige Meter voneinander entfernt. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass Protagonist Leibrand, der sich aus Angst vor seinem trinkenden und unberechenbaren Vater in seinem Schrank versteckt, ausgerechnet Amerika-Plakate malt. So nennt er die Bilder und Geschichten, die er in diesem zwischenweltlichen Bedrohungszustand zu Papier bringt. Er träumt, er imaginiert Menschen, denen wenig geblieben ist, die ein schlimmes Schicksal ereilt hat oder noch ereilen wird. In ihm laufen Leben zusammen wie der Verkehr an einer befahrenen Kreuzung und er sieht und fühlt, was anderen entgeht.

Natürlich wusste ich von Leibrands Schrank. Immer, wenn sein Vater zu viel getrunken hatte, und das passierte vier, fünf Mal die Woche, war der Schrank Leibrands Versteck. Während sein Vater  unten in der Küche so laut schrie, dass man es noch bei uns klar und deutlich hören konnte, verschwand Leibrand in dem schweren Holzkasten und ging fort – schloss die Augen und träumte sich weg von diesem schrecklichen Ort.

Wohin aber träumt sich der, der nicht verschwinden kann? Leibrand jedenfalls verschlägt es nach Brooklyn. Seinem Brooklyn. In Amerikas Brooklyn ist er nie gewesen, vielleicht sieht es ganz ähnlich aus, vielleicht auch nicht. Dort leben die Verstoßenen, die Verstorbenen, dort gibt es Dinge, die waren und Dinge, die noch werden. So gibt es eine Buchhandlung, die ausschließlich Titel führt, die es außerhalb Brooklyns noch gar nicht gibt, dort entstehen künstlerische Allianzen ganz besonderer Art. Gemeinsame Auftritte zwischen Bob Dylan und Leonard Cohen und Truman Capote geht Kaffee holen. Brooklyn ist die Welt, wo alles landet und verweilt, worum wir uns heute wenig scheren. Der Ort, an dem unsere Träume liegen, wenn wir sie nicht träumen.

Auf einer Parkbank, rot gestrichen, saßen Paul Auster und Harper Lee; Truman Capote ging sich gerade einen Kaffee besorgen.

Als Leibrand noch Kind ist, kommt ein Jahrmarkt in seine Stadt, den er mit Suzanne besucht. Mit Suzanne, die er liebt und die er zum ersten Mal küsst. Nach diesem Kuss jedoch verlieren beide sich aus den Augen und Leibrands dringendster Wunsch ist es, Suzanne wiederzufinden. Weder in Brooklyn noch außerhalb wird sie gesehen. Auf seiner Suche wird er vielen anderen Protagonisten aus seinen Geschichten begegnen. Etwa Albert Sterner, der mit dem Teufel um die Wette lief und Geschichten gewann, die er in Flaschen sprach. Robert, der den niemals schmilzenden Schnee sammelt. Brenner, den Obdachlosen, der Frau und Kind verlor. Chris, den Betreiber einer alten Diskothek in einem sterbenden Ort. Ist es Leibrand, der diese Menschen lebendig macht? Oder sind es die Geschichten, die Leibrand am Leben halten?

Ohne Bücher würde nichts funktionieren. Gar nichts. Die Leute glauben nicht allzu sehr an Bücher, ich weiß. Bücher sind Sternenstaub. Hätten wir keine Bücher, hätten wir auch kein Leben. Es sind die Geschichten, die uns über die Nächte bringen.

Richard Lorenz hat mit Amerika-Plakate einen unglaublich verschachtelten Roman geschrieben, der sich nicht mal eben ohne Weiteres weglesen lässt. Manchmal erfordert es Mühe, sich auf alle Ideen einzulassen, die dem Autor scheinbar unablässig auf’s Papier gesprudelt sind, hier und da glaubt man sich eher in einem Meta-Roman über das Leben und Überleben, die Liebe und den Tod, wider das Vergessen. In Amerika-Plakate entrollt sich vor den Augen des Lesers ein vielfältiges Panorama der Literatur – und Musikgeschichte. Wie die Adern im Organismus der Geschichte ziehen sich Johnny Cash, Bob Dylan, Leonard Cohen oder Tom Waits hindurch, hinterlassen diesen angenehmen Hauch Nostalgie zwischen den Zeilen, den man sich gern gefallen lässt. Er wollte keinen Roman schreiben wie es schon unzählige gibt, hat Richard Lorenz gesagt und mit Amerika-Plakate ist ihm das zweifellos gelungen. Es ist ein Roman geworden, der bezähmt werden will, sich manchmal ein bisschen zu viel zumutet, – alles in allem aber eine berührende Geschichte über die Liebe zu und die Notwendigkeit von Geschichten ist! In diesem Sinne: Auf nach Brooklyn! Wir sehen uns dann dort.

Ohne Zweifel gibt es so etwas wie Magie im Leben; jenen Zauber, der uns am Leben lässt. Jene Magie, die auch in den Träumen existiert, den Träumen von Norden, Westen, Süden und Osten. Träume von Brooklyn, gewiss.

Weil dieser Roman eigentlich ohne seinen Soundtrack kaum zu denken ist, muss man (neben dem obigen) dabei folgende Lieder hören:

Lou Reed – Take A Walk At The Wild Side
Johnny Cash – The Man Comes Around
Tom Waits – Waltzing Matilda
Charlie Parker – Yardbird Suite
Glenn Miller – Moonlight Serenade
Leonard Cohen – A Thousand Kisses Deep
Tony Bennett – Blue Velvet
Woody Guthrie – The Great Dust Storm
Bruce Springsteen – Dead Man Walking
Ludwig Hirsch – Komm, großer schwarzer Vogel
Leonard Cohen – Tower Of Song
Warren Zevon – Werewolfes of London
Edith Piaf – Milord
Grayson Capps – Lorraine’s Song
Tom Waits – Hold On
Leonard Cohen – Suzanne
Bob Dylan – Series Of Dreams

Die Kunst verbindet Menschen auf eine sehr geheimnisvolle Art und Weise.

Richard Lorenz: Amerika-Plakate, Edition Phantasia, 280 Seiten, 9783937897547, 22,00 €

Weitere Rezensionen findet ihr bei dandelion und Günter Keil.

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