Graphic Novel, Rezensionen
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Alison Bechdel – Wer ist hier die Mutter?

Nachdem Alison Bechdel in ,Fun Home‘ ihre Kindheit und die Beziehung zu ihrem Vater näher unter die Lupe nahm, beschäftigt sich ,Wer ist hier die Mutter?’ (Original: “Are you my mother”?) mit einem schwierigen Mutter-Tochter-Verhältnis, das sich in einem bravourösen Spagat zwischen eigenen Erinnerungen, psychoanalytischen Theorien und Virginia Woolf ein Stück zu klären beginnt.

Alison Bechdel wächst in einer Kleinstadt im Nordwesten der USA auf. Ihre Eltern sind Lehrer, die nebenbei ein Bestattungsunternehmen führen, das Verhältnis ist eher unterkühlt. Das bessert sich nicht maßgeblich, nachdem sie ihren Eltern mitteilt, dass sie lesbisch ist. Die Mutter geht zunächst erschrocken auf Abstand, erzählt der Tochter jedoch dann, dass der Vater homosexuell sei und sie bereits mit mehreren Männern betrogen habe. Bechdels Vater stirbt, als sie 19 ist, bei einem Verkehrsunfall. Sie jedoch interpretiert es im Nachhinein als Selbstmord, da ihre Mutter angesichts seiner zahlreichen Affären die Scheidung eingereicht hatte. Ist ,Fun Home‘ eher die kritische Auseinandersetzung mit ihrem Vater, widmet sich Alison Bechdel in ,Wer ist hier die Mutter‘ mehr ihrer distanzierten und unnahbaren Mutter, von der sie zusehends, so fühlt sie, selbst in eine Mutterrolle gedrängt wird. Stundenlang telefonieren die beiden, während ausschließlich Alisons Mutter erzählt, über Alisons Leben hingegen will sie selten etwas wissen. Während ihre Mutter am Telefon redet, schreibt Alison mit.

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Alison wird von Selbstzweifeln und unterdrückten Schuldgefühlen geplagt. Sie weiß, dass sie das Buch über ihre Mutter schreiben will und muss, andererseits ist sie dabei immer wieder von der Resonanz ihrer Mutter abhängig, fühlt sich gehemmt, hat Angst, zu versagen. Schon früh beginnt sie, therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen, um ihr inneres Chaos zu ordnen. Ein Chaos, das gleichermaßen mit ihrem Vater wie auch mit ihrer Mutter verbunden zu sein scheint. In ihre eigene Biographie flechtet Bechdel geschickt nicht nur Tagebucheinträge und Romanauszüge (“Zum Leuchtturm”) von Virginia Woolfe, sondern auch Theorien von Donald Winnicott ein, einem Kinderarzt, der wichtige Theorien im Bereich der Psychoanalyse bei Kindern entwickelte. Bechdel liest sich, neben der Therapie, durch Berge psychoanalytischer Literatur, neben Winnicott spielt auch Alice Millers ,Das Drama des begabten Kindes’ eine große Rolle. Sie geht den bedeutsamen Fragen nach: Wie entstehen Eltern-Kind-Beziehungen und wie lösen sie sich? Wann erkennt das Kind sich als unabhängig von seiner Mutter? Was geschieht, wenn diese notwendige Trennung nie vollzogen wird? Wenn gar nicht mehr ganz klar ist, wer Mutter ist und wer Tochter?

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Bechdels Graphic-Novel ist hochpsychologisch, tief geprägt von den Gedanken, Fragen und Gefühlen einer Frau, die versucht, sich und ihr Leben, ihre unwiderrufliche Prägung zu begreifen. Dabei flackern immer wieder Situationen auf, die auf den ersten Blick gar nicht bedeutsam erscheinen und erst in ihrer Langzeitwirkung Bedeutung erlangen, erst dort Schaden anrichten. Manch eine Unterdrückung, manch eine Bevormundung, geschieht emotional so unterschwellig und perfide, dass man einen Moment nachdenken muss, um ihre Tragweite zu begreifen. Hier wird niemand geschlagen oder misshandelt, die Verletzungen in Alison Bechdels Familie geschehen unbemerkter. Das ist es allerdings auch einerseits, was ,Wer ist hier die Mutter‘ zu einem anspruchsvollen und auch beanspruchenden Drama werden lässt. Wer sich hineinversetzen kann in eine starre und kühle Familie – wohl nicht ein einziges Mal wurde Alison von ihrer Mutter herzlich umarmt -, der wird auch beim Lesen hier und dort erschauern. Andererseits ist das Drama, schon durch seinen Fokus auf die Psychoanalyse, insgesamt ein sehr psychologisierendes. Beinahe jede Handlung, jeder Traum, jeder Gedanke wird auf seinen tieferliegenden, möglicherweise konfliktbeladenen Sinn untersucht. Wer sich schon in ähnlicher Lage befand, wird genau wissen, wie schnell man sich dabei verrennen kann. In diese Falle aber tappt Alison Bechdel nicht, sie kommt voran, es findet Entwicklung statt, eine leise Annäherung an ihre Mutter.

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,Wer ist hier die Mutter’ ist ein schonungsloses Buch, keine leichte Lektüre. Auch, wenn der Begriff ,schonungslos’ bisweilen sehr überstrapaziert erscheint: hier trifft er zu, hier trifft er den Kern. Bechdel schont weder sich selbst noch den Leser. Damit muss man umgehen können. Wenn man es kann und auch will, wird man mit einer ganz besonderen autobiographischen Graphic Novel belohnt, die nebenbei fast ein kleines Lehrbuch der Psychoanalyse ist.

Alison Bechdel: Wer ist hier die Mutter?, aus dem Englischen von Thomas Pletzinger & Tobias Schnettler, Kiepenheuer & Witsch Verlag, 286 Seiten, 9783462046182, 22,99 €

Eine weitere Rezension findet ihr auf lesErLeben.

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