Graphic Novel, Rezensionen
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Stephen Collins – Der gigantische Bart, der böse war

Was passiert, wenn das Chaos in die Ordnung hineinbricht, grundlos, ungefragt, unvorhersehbar – das zeigt Illustrator Stephen Collins anhand einer märchenhaften Parabel über die schöpferische Kraft des Ungewöhnlichen.

Dave ist alles in allem ein unscheinbarer und geordneter Mensch. Er lebt auf ,HIER’, einer Insel, die in ihrer Aufgeräumtheit und  Akkuratesse gewissermaßen Fels in der Brandung und Halt für jeden Menschen ist, der Gleichförmigkeit und Routine schätzt. Nichts fällt auf HIER aus dem Rahmen, nichts stört und verwirrt die Sinne. Tag für Tag hört Dave einen einzigen Song in Endlosschleife (‘Eternal Flame’ von den Bangles), geht er einer Arbeit in einer Firma nach, deren Ziel er nicht kennt und deren Zweck er nicht versteht. In ihrer ständigen Wiederkehr aber gibt sie ihm Sicherheit, Geborgenheit. Denn da ist etwas außerhalb von HIER, das alle Menschen fürchten. Umgeben von dunkler See liegt jenseits von HIER DORT. Der Inbegriff des Chaotischen. Niemand ist jemals dort gewesen, doch, wie es immer so ist – man erzählt sich furchtbare Geschichten.

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Am Rande ihres Bewusstseins lauert für alle Menschen das Schreckgespenst von DORT, weshalb sie sich nur, vorsorglich, immer tiefer in ihre tägliche Routine flüchten. Bis mit Dave eines Tages etwas geschieht, das alle Ordnung in Frage stellt. Die Grundlosigkeit selbst. Nicht nur, dass ihn sein Vorgesetzter plötzlich nach der Bedeutung der Daten fragt, die Dave jeden Tag bloß stupide auswertet und visualisiert, während einer Präsentation wächst dem ansonsten so glatten und haarlosen Dave (abgesehen von einem einzigen Haar unterhalb seiner Nase) ein Bart. Innerhalb von Minuten schmückt eine dichte Haarpracht sein Gesicht, – und der Bart denkt gar nicht daran, sein Wachstum einzustellen. Panisch flüchtet Dave nach Hause, in seinen Grundfesten erschüttert.

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Egal, wie oft er versucht, seinen Bart zu stutzen, er wächst in Sekundenschnelle nach. Dave wird zum gesellschaftlichen Problem – hat er doch das Chaos nach HIER gebracht, was man weit entfernt in DORT wähnte. Man stellt Friseure, Hundescherer und Gärtner ab, den Bart im Zaum zu halten, bis man sich schließlich entscheidet, mangels Alternativen, den vereinsamten und völlig verstörten Dave mittels einiger am Bart befestigter Ballons von HIER verschwinden zu lassen. Doch zu diesem Zeitpunkt hat das Chaos schon seine Spuren hinterlassen – und verändert langsam, schleichend, die Lebenswirklichkeit der Menschen.

Man muss sich verlieben in diese verspielten Zeichnungen, in diesen Metaphernreichtum, den Stephen Collins in seiner Graphic Novel präsentiert. Mit dem Charme eines modernen Märchens zeigt Collins’ Parabel die Kraft der Unordnung und des Ungewöhnlichen. Letztlich verändert nur das Eindringen des Bartes in eine dröge Vorhersehbarkeit die Sicht auf das Leben. Starre Reglementierungen und die Wiederholung des ewig Gleichen lassen ein Leben eng werden, fade. Und trotzdem man sich sicher ist, auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein und alles unter Kontrolle zu haben, muss man sich doch früher oder später mit der Unvorhersehbarkeit des Lebens konfrontieren. Niemand kann alles kontrollieren, weder hier noch dort. Und manches Mal erwachsen gerade aus Situationen, die wir nicht kontrollieren, die größten Erkenntnisse.

Fraglos ist diese Graphic Novel, im Atrium-Verlag in der Übersetzung von Tim Jung erschienen, für alle Freunde des gezeichneten Wortes ein Muss. Zauberhafte Illustrationen gehen Hand in Hand mit philosophischen Gedanken und ganz grundsätzlichen Überlegungen zu Lebensführung und persönlicher Freiheit. Ein graphischer Geniestreich, der in seinem Genre wohl zu den Höhepunkten dieses Jahres gehören wird!

Stephen Collins: Der gigantische Bart, der böse war, Atrium Verlag, 240 Seiten, 9783855350735, 29,99 €.

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