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Haruki Murakami – Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Haruki Murakami ist ein japanischer Autor. Er gilt als einer der einflussreichsten und erfolgreichsten Schriftsteller Japans, sein Erfolg in vielen Teilen der Welt gibt ihm Recht. Seine Werke wurden bereits mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, einige davon auch für die Theaterbühne adaptiert. Murakamis Romane sind deutlich westlich geprägt, er lebte selbst längere Zeit in Europa und den USA. So betätigt er sich auch als Übersetzer klassischer amerikanischer Erzähler wie Fitzgerald, Irving oder Capote. ,Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazai’ erscheint in der Übersetzung von Ursula Gräfe im DuMont Verlag.

Lange wurde er sehnsüchtig erwartet, der neue Roman von dem vermutlich bekanntesten japanischen Autor auf dem europäischen Kontinent. Mit seinen surrealistischen und magischen Geschichten weiß er die Leser immer wieder in seinen Bann zu ziehen, sie zu begeistern. Sein Stil ist charakteristisch, seine Romane haben einen hohen Wiedererkennungswert. Wie eine Stimme, die man nur wenige Sekunden hören muss, um sie zweifellos zuordnen zu können. In Haruki Murakamis neuem Roman geht es um enge Freundschaft fast bis zur Selbstaufgabe, um die Macht der Vergangenheit und den Umgang mit Schuld.

Tsukuru Tazaki ist ein farbloser Mann. Zeit seines Lebens fühlt er sich wie ein leeres Gefäß, frei von besonderen Talenten, von Schönheit, Ausstrahlung oder gar Charme. Seine Leidenschaft gilt der Konstruktion von Bahnhöfen, die in ihrer Praktikabilität und ihrer Effizienz stets als einzige Ruhe in das gelegentlich erregte Gemüt des Herrn Tazaki bringen können. Sein Leben plätschert dahin wie ein abgelegener Gebirgsbach, von wenigen bemerkt, gleichförmig, unbedeutend. Die ersten Sätze des Romans allerdings sprechen eine andere Sprache.

Vom Juli seines zweiten Jahres an der Universität bis zum Januar des folgenden Jahres dachte Tsukuru Tazaki an nichts anderes als an den Tod. Er wurde in jenem Jahr zwanzig, was jedoch keinen nennenswerten Einschnitt für ihn bedeutete, denn zu der Zeit war ihm der Gedanke , sich das Leben zu nehmen, der nächste und natürlichste. Bis heute wusste er nicht, warum er den letzten Schritt nie vollzogen hatte. Denn die Schwelle vom Leben zum Tod zu überschreiten wäre damals so leicht für ihn gewesen, wie ein rohes Ei zu schlucken.

Was bringt einen scheinbar farblosen und kontrollierten Mann zu solch einer pragmatischen Einstellung gegenüber dem Tod? Stück für Stück erfahren wir von Tsukurus Vergangenheit und seinen Freunden in der Oberschule. Als Fünfergespann waren sie unzertrennlich, drei Jungen und zwei Mädchen, auf sich selbst fokussiert und in sich geschlossen wie ein Geheimbund verbrachten sie die Schulzeit in einer vollkommenen Harmonie. Sie waren sich in vielerlei Hinsicht ähnlich und ergänzten sich in Bereichen, die sie unterschied.

Die Lebensumstände der fünf Freunde wiesen also mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede auf. Allerdings hatten die anderen vier eine weitere zufällige Gemeinsamkeit, die Tsukuru Tazaki als einziger nicht teilte. In jedem ihrer Nachnamen kam eine Farbe vor. Die beiden Jungen hießen Akamatsu – Rotkiefer – und Oumi – blaues Meer. Die beiden Mädchen Shirane – weiße Wurzel – und Kurono – schwarzes Feld.

Nachdem er die Oberschule beendet hat, beginnt er in Tokio Ingenieurswesen zu studieren. Zunächst mag die räumliche Trennung der Freunde wenig an ihrem Zusammenhalt verändern, doch eines Tages, als Tsukuru in seine Heimatstadt Nagoya zurückkehrt, gehen sie ihm alle aus dem Weg. Lassen sie sich am Telefon verleugnen. Verschwinden sie aus seinem Leben. Auch auf Nachfrage kann er nicht in Erfahrung bringen, was er getan hat, um diesen ,Wurf ins kalte Meer‘ zu verdienen. Er vereinsamt, steht an der Schwelle zum Tod, zieht sich völlig in sich selbst und die Farblosigkeit zurück.

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Liszts ,Le mal du pays‘ (Heimweh, oder genau: “die grundlose Traurigkeit, die eine ländliche Idylle im Herzen des Menschen weckt“) begleitet ihn in seiner Einsamkeit, es ist ein Stück, das die schwanenhalsige und zerbrechlich schöne Shirane früher stets am Flügel spielte. Schließlich lernt Tsukuru Sara kennen, eine toughe Frau, selbstgewiss und sein Fels in der Brandung. Er verliebt sich, doch sie bittet ihn, sich zuerst seinen Dämonen der Vergangenheit zu stellen. Er fährt zurück nach Nagoya, um zwei seiner alten Freunde zu befragen, er reist sogar nach Finnland, um endlich, nach sechzehn Jahren, zu erfahren, was damals geschehen ist. Was er erfährt, erschreckt ihn zutiefst. Er soll Shirane vergewaltigt haben, sagte die. Mittlerweile ist sie tot, man fand sie Jahre zuvor  erwürgt in ihrer Wohnung.

Haruki Murakami erzählt eine Geschichte, die mal ins Surreale abgleitet, voller Traumsequenzen und Symbole, dann aber wieder so sehr in der schmerzlichen Realität Tazakis verankert ist, dass wir mit ihm leiden müssen. Er wurde gewissermaßen von seinen Freunden geopfert, den Menschen, denen er am meisten vertraute. Fast kaskaesk ist diese Übermacht, die Tsukurus Leben von dem Punkt an beherrscht, unerklärlich und gewaltig, gesichtslos. Erst seine (Pilger)reise zu den Menschen der Vergangenheit erweckt ihn wieder zum Leben.

Er begriff endlich in den Tiefen seiner Seele, dass es nicht nur die Harmonie war, die die Herzen der Mensche verband. Viel tiefer war die Verbindung von Wunde zu Wunde. Von Schmerz zu Schmerz. Von Schwäche zu Schwäche.

,Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki‘ ist ein berührender, ein poetischer, ein zutiefst melancholischer Roman, dessen Stimmung in Liszts ,Le mal du pays’ tatsächlich erschreckend genau eingefangen ist. Wie sehr kann und darf ich mich für andere opfern? Wo finde ich eine Heimat? In einer Stadt? In einem Menschen? Was bedeutet (vergangener) Schmerz? Ein lesenswerter, ein faszinierender Roman, der diesmal auch Leser begeistern kann, die sonst mit Murakami etwas fremdeln mögen.

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