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Lisa O’Donnell – Bienensterben

Lisa O’Donnell ist eine amerikanische Autorin. Für ihr Drehbuch “The Wedding Gift” wurde sie mit dem Orange Screenwriting Prize ausgezeichnet. Mit Bienensterben hat sie sich, nach dem Drehbuchschreiben, das erste Mal einem Roman zugewandt, der sogleich mit dem Commonwealth Book Prize bedacht wurde. In Deutschland erschien er kürzlich in der Übersetzung von Stefanie Jacobs im DuMont Verlag.

Schon die ersten Sätze von Lisa O’Donnells Debütroman lassen keinerlei Zweifel daran aufkommen, dass wir es mit einer Geschichte zu tun haben, die an die Nieren gehen wird. Es ist eine Geschichte aus prekären und unwirtlichen Verhältnissen, aus einem Umfeld, das wir mehrheitlich, glücklicherweise, nicht aus eigener Erfahrung kennen. Marnie und ihre kleine Schwester Nelly haben gerade ihre Eltern begraben. Nicht konventionell auf einem Friedhof, sondern heimlich im Garten hinter dem Haus. Es tut ihnen nicht leid, denn abgesehen von der rein biologischen Verwandtschaft sind die den beiden Mädchen niemals Etern oder Stütze gewesen. Drogenabhängig und verwahrlost haben sie die Kinder meistens sich selbst überlassen, unfähig, ihr eigenes Leben zu gestalten, ganz zu schweigen von dem ihrer Töchter. Eugene “Gene” Doyle und Isabel “Izzy” MacDonald sind das, was man gescheiterte Existenzen nennt.

Izzy hat gesagt, ich wäre winzig gewesen bei der Geburt, ein Frühchen, das schnell auf die Intensivstation musste, und da hab ich neun Wochen unter einer Plastikhaube gelegen und Gene und Izzy haben mich durch das Plexiglas angeguckt. Der sicherste Ort, an dem ich je war. Na jedenfalls, deshalb bin ich Marnie und nicht Eve oder Prudence oder Lucretia. Ich bin Marnie. Zu jung zum Rauchen, zu jung zum Trinken und zu jung zum Ficken, aber wer sollte mich aufhalten?

Weil sie Angst vor einem Leben im Heim haben, beschließen die beiden, ihre Eltern im Garten zu begraben. Eingewickelt in ein siffiges Bettlaken begraben sie zunächst ihren Vater, ihre Mutter lassen sie vorerst im Geräteschuppen, in dem sie sich erhängt hat. Ihre Eltern seien verreist, in die Türkei, ihre Rückkehr ungewiss. Die beiden versuchen, sich um sich selbst zu kümmern und bekommen dabei unverhofft Unterstützung von ihrem Nachbarn Lennie, einem alten und gebrochenen Mann, der in der Stadt den fragwürdigen Ruf eines Perversen genießt. Selbst homosexuell wurde er in der Vergangenheit dabei erwischt, wie er Kontakt zu einem minderjährigen Stricher suchte. Seitdem lebt er abgeschottet allein mit seinem Hund Bobby – und nimmt sich nach und nach der beiden Mädchen an, die in ihm das erste Mal so etwas wie eine Familie finden.

Ich bin froh, dass die Mädchen einander haben, denn sonst ist es eine einsame Reise, und deshalb lasse ich ihnen ihre Geheimnisse und das, was sie miteinander teilen. Es verbindet sie, so bleiben sie stark. Und darauf kommt es an, stark bleiben, es bindet einen an das Leben und zwingt einen zum Weitergehen, selbst wenn es nur mit einem Hund ist.

In Lennie finden Marnie und Nelly so etwas wie Kontinuität und Stabilität in einer Welt, die ihnen bisher nur feindlich und abweisend begegnet ist. Doch mit fortschreitender Zeit häufen sich die Fragen nach dem Verbleib ihrer Eltern und als plötzlich der Vater Izzys, Robert T. MacDonald, aus der Versenkung auftaucht, steuert die Geschichte auf eine Katastrophe zu, die in der Aufdeckung ihres grausigen Geheimnisses mündet. Eine große Stärke des Romans ist unbestritten die dreigeteilte Erzählperspektive. Alles, was geschieht, erleben und erfahren wir aus Marnies, Nellys und Lennies Perspektive. Marnie als die große Schwester, die sich verantwortlich fühlt und ihre eigene Verletzung hinter einer großen Klappe und einem rauen Tonfall verbirgt, ist in der Erzählung zwar bestimmend, wird aber immer wieder durch die empfindsame Nelly kontrastiert, die für ihr Alter ungewöhnlich verschlossen und entrückt erscheint. Lennie, ein ungewöhnlicher Charakter, den man zunächst wohl nicht für geeignet halten würde, zwei verwaiste Mädchen zu versorgen, bildet die notwendige Außenperspektive.

Nellys Leidenschaft ist das Geigenspiel, Cornflakes mit Cola und Bette-Davis-Filme. Marnie ist extrovertiert und verdient mit gelegentlichen Drogendeals Geld, um sie beide über Wasser zu halten. Lisa O’Donnell entwirft in ihrem Roman ein düsteres Szenario, dessen Sogkraft man sich schwer entziehen kann. Beklemmend real und einfühlsam beschreibt sie den Kampf dieser Mädchen um Normalität und Familie, Halt und Geborgenheit. Was bedeutet eigentlich Familie? Und wo finde ich ein Zuhause, wenn mir das, was mir gegeben wurde, niemals ein solches war? Implizit stellt Lisa O’Donnell auch Fragen nach Verantwortung, nach Courage und Umsichtigkeit – denn den Mächen gelingt es monatelang, den Tod ihrer Eltern zu verheimlichen. Einen Tod, den sie zwar nicht selbst verschuldet, aber doch wissentlich vertuscht haben. Bienensterben ist ein ungewöhnliches, ein aufrüttelndes Buch, das uns wieder einmal ins Gedächtnis ruft, wie viel Leid und Hilflosigkeit sich hinter so mancher verschlossener Haustür verbirgt. Es ist keine leichte Kost, die O’Donnell uns vorsetzt, aber der eine oder andere Funken Hoffnung lässt einen weiterlesen, weiterdenken.

Auch über die Grenzen des Romans hinaus, der an der einen oder anderen Stelle womöglich gewollt ein bisschen über sein Ziel hinausschießt, ein bisschen zu tief in die Action-Trickkiste greift. Ein rundum lesenswertes Debüt in den Untiefen eines gescheiterten und zerrütteten Familienlebens.

Ich weiß nicht einmal, warum ich traurig bin oder warum ich das Foto aus dem Album nehme, einmal knicke und in meine Arschtasche stecke oder warum ich so leide wegen einer Mutter und einem Vater,die nie da waren. Und da kapier ich es auf einmal: Ich weine um das, was hätte sein sollen. Das da in meiner Arschtasche ist nicht das Bild von einer Familie, sondern von etwas, was sie nie wirklich wollte. Wir sind ihr irgendwie so passiert,und obwohl sie unsere Hand gehalten und uns auf die Stirn geküsst und manchmal auch in die Bettdecke eingemummelt hat, hatte sie immer so einen Blick in den Augen, als würde sie denken: Was mache ich hier eigentlich?, und das weiß ich, weil sie zugelassen hat, dass uns Sachen passieren, die uns nie hätten passieren dürfen.

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