Romane, Sachbuch
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Ulrike Edschmid – Das Verschwinden des Philip S.

Edschmid

Ulrike Edschmid ist eine deutsche Autorin. Sie studierte sowohl Literaturwissenschaft und Pädagogik in Berlin und Frankfurt als auch an der Deutschen Film – und Fernsehakademie in Berlin. Viele von Edschmids Arbeiten basieren auf realen Personen oder Gegebenheiten. So sprach sie für ihre ersten Werke mit den Frauen berühmter Literaten und befragte sie zu deren Leben, in Wir wollen nicht mehr darüber reden beschäftigt sie sich mit dem tiefen Graben, der als Schatten des Nationalsozialismus das im Aufbau befundliche Nachkriegsdeutschland  durchzieht. Als Basis dafür dienen hunderte Briefe zwischen ihrem Schwiegervater und dessen Frau. Im hier vorliegenden Werk thematisiert sie den Weg ihres alten Freundes Werner Sauber in den Untergrund.

Für alle, die sich mit der 68er-Generation und deren radikalisierten Ausläufern beschäftigen wollen oder beschäftigt haben, ist dieses Buch sicherlich ein Gewinn. Ich habe mich vor Jahren intensiv mit der RAF beschäftigt, mit deren Zustandekommen, der Studentenrevolte. Ich sah bis spät in die Nacht Gesprächsrunden mit Rudi Dutschke und Daniel Cohn-Bendit, versuchte mich an Herbert Marcuse und scheiterte, las Bernward Vesper, Stefan Austs Baader Meinhof Komplex und Gerd Koenens Vesper,Ensslin und Baader. Etwas gab und gibt es an dieser Zeit, das mich nachhaltig fasziniert und so stieß ich auf dieses Buch von Ulrike Edschmid, Roman als Bezeichnung ist hierfür vielleicht irreführend, vielmehr sind es Erinnerungen, in ein prosaisches Gewand gekleidet. Wer war Werner Sauber, bevor er in den Untergrund ging? Wer war er, bevor beide sich kennen und lieben lernten? Und wie viel von sich selbst kann man für eine große Sache aufopfern, ohne die Realität aus den Augen und den Boden unter den Füßen zu verlieren?

Philip S. kommt im Spätsommer 1967 nach Berlin. Er trägt einen Anzug, der nicht zu seinem Alter passt, und einen Vornamen, der nicht in seinem Ausweis steht. Mit dem schmalen Bart, der seinem ländlichen Gesicht eine altmodische Strenge verleiht, ähnelt er dem Basler Bonifacius Amerbach, wie ihn der jüngere Hans Holbein vor etwa fünfhundert Jahren gemalt hat. Er ist zwanzig, und es scheint, als hätte er sein Alter bereits mit weitausholenden Schritten durchquert. Aber er bewegt sich nicht mit fliegenden Rockschößen, eher bedächtig und die Augenblicke dehnend, als müsse er sie ausschöpfen bis auf den Grund.

Er studierte in Berlin an der Deutschen Film – und Fernsehakademie, stammte aus reichem Schweizer Elternhaus, sein Bruder Peter Sauber ist ein Formel-1-Pionier, Rennstallbesitzer, Konstrukteur von Sportwagen. Philip Werner Sauber sticht heraus mit seiner künstlerischen Begabung, mit seinem Hang zur Fotografie und zum Film. 1968 drehte er Der einsame Wanderer, einen Kurzfilm, der an der Akademie zunächst wenig Beachtung fand und vorallendingen von der politischeren Fraktion der Studenten für wenig zielführend im Kampf gegen Imperialismus und Vietnamkrieg gehalten wurde. Doch spätestens mit dem Attentat auf Rudi Dutschke wird Sauber politisiert, rückt er ab von einem rein ästhetischen Gesichtspunkt seiner Arbeit, hin zu einem zielgerichteten.

Zwei Tage später, am elften April, trifft ein Mann im Interzonenzug am Bahnhof Zoo ein. Er kommt mit dem Plan, einen bekannten Studentenführer zu töten. Er trägt zwei Pistolen bei sich, eine unter der Jacke, eine zweite in einer Tasche. In der Tasche befindet sich auch die Bildzeitung, die seit langem eine Hetzjagd auf den  Studentenführer betreibt. Der Mann schießt, als der Studentenführer mit dem Fahrrad von der Johann-Georg-Straße auf den Kurfürstendamm einbiegt. Der Getroffene stürzt vom Fahrrad, reißt sich die Schuhe von den Füßen und die Uhr vom Handgelenk. Er ruft nach seiner Mutter, nach seinem Vater.

Rudi Dutschke wird das Attentat überleben, aber das Sprechen und Schreiben neu lernen müssen. Einige Jahre später wird er in der Badewanne einen epileptischen Anfall erleiden – eine Folge der Schüsse in den Kopf – und ertrinken. Philip Sauber beginnt immer öfter auf Kundgebungen zu gehen und sich an Demonstrationen zu beteiligen. Er distanziert sich von der Eulenspiegelei der Kommune 1, aber auch von der Radikalität der sich langsam formierenden RAF. Er ist im Umfeld der Bewegung 2.Juni aktiv (benannt nach dem Tag, an dem der Polizist Karl-Heinz Kurras Benno Ohnesorg niederschoss) Sie drucken kritische Zeitungen, gegen den Vietnamkrieg und den amerikanischen Präsidenten, sie beschädigen Autos, sprayen auf Häuserwände, geben befreundeten Aktivisten Rückendeckung. So auch Ulrike Edschmid, bis zu einem gewissen Punkt. Sie hat einen kleinen Sohn. Als sie einmal für einige Wochen fälschlicherweise wegen eines Vergehens anderer inhaftiert wird, kann sie nur noch an ihren Sohn denken. Nach diesem Gefängnisaufenthalt ist vieles anders. Sauber zieht es in den Untergrund, Edschmid zurück in ihr Leben.

Bis zu dem Tag, an dem er es tat, glaubte ich nicht, dass er es tun würde. Ich sehe, wie er das wenige, was er besitzt, aufgibt, ich nehme wahr, was unter meinen Augen vorgeht. Aber ich habe keinen Zugang mehr zu dem inneren Ort, an dem seine Vorstellung zum Entschluss und schließlich zur Tat reift. Es ist der Bereich, wo es nur ihn gibt und niemand sonst. Und weil in seinem Leben alles eine Form hat, entwirft er wie in einem Szenenwechsel eine Vorstellung von seiner zukünftigen Existenz als Mensch im Untergrund. Und wie er seinem Leben als Künstler eine perfekte Gestalt gegeben hat, muss auch sein Leben im Untergrund stimmen, bis in die letzte Einzelheit.

Am 9. Mai 1975 stirbt Philip Werner Sauber bei einem Schusswechsel mit der Polizei. Er war achtundzwanzig Jahre alt. Ulrike Edschmid nähert sich mit diesem einfühlsamen Buch der radikalisierten Studentenbewegung der 68er von einer ganz anderen Seite. Von der menschlichen. Sie hat Bezug zu diesem Mann, den andere nur als Terroristen von Fahndungsplakaten kannten. Und sie nutzt diese persönliche Verflechtung, um Einblick zu gewähren in das, was die Menschen damals bewegte. Für mich ist dieses Buch nicht  nur ein wichtiges Stück persönliche Erinnerung, sondern auch ein literarisch anspruchsvoller Rückblick in das Deutschland der 60er und 70er-Jahre.

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