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Vladimir Sorokin – Der Schneesturm

Vladimir Georgijewitsch Sorokin ist ein russischer Schriftsteller und Dramatiker. Er gilt als Konzeptkünstler und Kritiker der russischen Regierung. Er beschäftigte sich lange Zeit mit Buchgraphik, Malerei und Konzeptkunst, nahm an mehreren Ausstellungen teil und illustrierte selbst zahlreiche Bücher. Seine eigenen Werke wurden von regierungstreuen Organisationen häufig in Verruf gebracht, besonders durch die Jugendorganisation Iduschtschije Wmeste, die seine Bücher symbolisch im “Klo” herunterspülte.

Hallelujah! Was für eine wirre Irrfahrt durch Schnee und Eis, passend zum Wetter draußen. Was in diesem Buch an Eindrücken und Stimmungen wie im wildesten Schneegestöber durcheinanderwirbelt, ist nahezu unbeschreiblich! Anfangs liest man noch den typisch schwermütigen Russen heraus, den Dostojewski, fatalistisch voller Gram und Weltschmerz, bis diese Dostojewski-Straße (und nichts gegen Dostojewski!) plötzlich scharf Richtung Bulgakow abbiegt. Ich fühlte mich mitunter stark an Der Meister und Margarita erinnert, bloß, dass es da nicht so höllisch kalt war. Aber der Reihe nach.

“Sich besaufen und umfallen. Auf offener Straße. Das ist der Wahnsinn! Der russische Wahnsinn!”, grinste der Doktor, dem das Lachen die Röte ins Gesicht getrieben hatte, holte sein Etui hervor und rauchte die letzte Zigarette.

Protagonist ist Platon Garin. Ein Arzt, der dringend ins nahegelegene Dogolje reisen muss, um die dortigen Bewohner vor einer Epidemie zu bewahren, genau genommen vor der bolivianischen Pest, die aus jedem Infizierten unweigerlich einen Zombie werden lässt, der den Gesunden höchst gefährlich werden könnte. Doktor Garin mangelt es nun aber bedauerlicherweise an einem Pferd und da auch der hiesige Stationsvorsteher nichts mehr zu verleihen hat, muss er sich an den ortsansässigen Brotkutscher wenden. Der hat Pferde. Fünfzig an der Zahl. Ungefähr so groß wie Rebhühner. Das ist der erste Moment, in dem man kurz stutzt. Sich nochmal schnell ins Gedächtnis ruft, wie groß so ein Rebhuhn ist. Na gut.

Der Brokutscher Kosma, den alle nur den Krächz nennen, weil er in seiner Jugend unter furchtbar krächzenden Husten gelitten habe, erklärt sich bereit, den Doktor mit seinem kleinen Mobil nach Dogolje zu kutschieren und damit beginnt ein absolut wahnwitziger Trip. Ich darf soviel verraten: In Dogolje kommen die beiden niemals an. Denn in nahezu beruhigender Regelmäßigkeit geschieht irgendetwas, das sie in ihrer Reise aufhält. Die Kutsche fährt mit den Kufen auf eine seltsam gläsern anmutende Pyramide, die da einfach so im Wege lag. Dieses Missgeschick spaltet eine der Kufen, die die beiden notdürftig mit einer klebrigen Salbe und Verbandszeug flicken. Aber auch das hält nicht ewig. Immer wieder bleiben sie stecken, verlieren den Weg aus den Augen, frieren sich fast zu Tode.

Man weiß irgendwann gar nicht mehr, ob man die beiden bemitleiden oder belächeln soll, denn soviel Unglück kann doch kaum zwei einzelnen Menschen beschieden sein! Nach einiger Zeit treffen sie auf Dopaminierer – Menschen, die durch besondere Produkte in ihrem Sortiment wenigstens ein bisschen glücklich machen sollen -, die ihr Lager in einem aus lebend gebärendem Filz aufgeschlagen haben. Ja. Ihr lest richtig. Lebend gebärender Filz. Filz, der aus sich selbst heraus wächst und gedeiht. Aus der Tube. Völlig selbstverständlich. Die Dopaminierer eröffnen Garin, dass sein Eintreffen sehr gelegen käme, zufällig bedürften sie nämlich gerade seiner Hilfe.

“Ist jemand krank?” Garins Blick ging von einem zum anderen. “So ist es”, nickte Suchtaus, ein stämmiger Kerl mit grobem, beinahe bäuerlich zu nennendem Gesicht. “Wer denn?” “Unser Freund Sandmann da drüben”, sagte Leistritt, mit dem Kopf in eine Richtung deutend. Der Doktor wandte sich dorthin. Zwischen zweien der sitzenden Mädchen lag etwas, das in einen Teppich eingerollt war. Die Mädchen schlugen den Teppich zurück, und der Doktor erblickte den Vierten im Bunde, auch er mit geschorenem Kopf und einem Halsband mit blitzenden Supraleiterinkrustationen. Sandmanns Kopf war stark in Mitleidenschaft gezogen: Schrammen, Blutergüsse, das Gesicht leicht angeschwollen. Der Doktor trat vorsichtig näher, beugte sich nach vorn und schaute. “Was ist mit ihm?” “Er hat Prügel bezogen”, erwiderte Leistritt. “Von wem?” “Von uns.”

Das war so ein Augenblick, in dem ich laut lachen musste. Derer gibt es noch einige in Sorokins Buch, es sprüht geradezu vor absurden Einfällen. Nicht zu vergessen die Episode, in der sich der Krächz und Garin mit dem Mobil im Nasenloch eines Riesen verkeilen. Der liegt da, einfach so, mitten auf der Straße. Weil sich die ohnehin gesplitterte und notdürftig geflickte Kufe in der Nase verkeilt hat, beginnt der Krächz, dem erfrorenen Riesen die Nase abzuhacken, um ihr Gefährt zu befreien. Und immer wieder denkt man: Was ist hier nur los? Derlei Absurditäten in Romanen beginnen dann richtig Spaß zu machen, wenn sie auch von den Protagonisten irgendwie für selbstverständlich genommen werden. Zwar lachen die beiden über ihren eigenartigen Unfall, den ihnen voraussichtlich niemals jemand glauben würde, aber die Existenz von Riesen steht vollkommen außer Frage!

Dieses Buch macht einfach Spaß, seine Sprache zergeht einerseits auf der Zunge, büßt andererseits aber nichts an Authentizität ein. Und trotz aller Absurdität vergisst man niemals, dass der Doktor doch eigentlich Menschenleben retten will. Deshalb ist er doch überhaupt auf die Reise gegangen, um Gutes zu tun, um den Menschen zu helfen und nun steckt er alle paar Meter irgendwo fest. Oder muss auf die Zwergpferde des Krächzes aufpassen, die sich derart vor einem Rudel Wölfe erschrocken haben, dass sie erstmal eine Stunde pausieren müssen. Es ist Tragikomik vom Feinsten, ein wirklich tolles Buch!

Nur eine Frage brennt mir auf der Seele: Was um Himmels willen ist eine Kaube?

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