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John Lanchester – Kapital

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John Lanchester ist ein britischer Schriftsteller. Für seinen Debütroman The Debt to Pleasure (deutsch: Die Lust und ihr Preis) wurde Lanchester mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet. Er war für viele verschiedene Zeitungen tätig, schrieb für den Observer sogar als Restaurantkritiker. Schon 2010 legte er mit Whoops! Why Everyone Owes Everyone and No One Can Pay eine Darstellung der Finanzkrise vor.

Selbiges erwartet man natürlich auch, wenn man ein Buch in den Händen hält, das den Titel Kapital trägt. Man erwartet eine knallharte Anklage der globalen Finanzmärkte, ein wütendes Pamphlet und in gewisser Weise erfüllt Lanchester diese Erwartung vielleicht auch. Mit dem kleinen, aber feinen Unterschied, das aus dem, was zunächst ein wenig dröge für einen beinahe 700 Seiten starken Roman klingt, ein wunderbarer, kleiner Mikrokosmos entsteht. Die fiktive Pepys Road in London und ihre Bewohner.

Seit es die Straße gab, war darin fast alles geschehen, was in einer Straße geschehen konnte. Zahllose Menschen verliebten sich und trennten sich wieder, ein junges Mädchen wurde zum ersten Mal geküsst, ein alter Mann tat seinen letzten Atemzug, ein Anwalt, der von der U-Bahn-Station nach Hause ging, schaute in dem vom Wind ganz blaugefegten Himmel und hatte plötzlich das Gefühl, eine höhere Macht würde ihm Trost zusprechen, würde ihm versichern, dass es mehr als dieses Leben gab und dass das Bewusstsein mit dem Tod nicht endete. Babys starben an Diphterie, Junkies spritzen sich auf dem Klo Heroin, junge Mütter bekamen Weinkrämpfe, weil sie sich so unendlich müde und einsam fühlten, andere planten ihre Flucht, hofften auf ihre große Chance, schauten Fernsehen, setzten ihre Küche in Brand, weil sie vergessen hatten, ihre Fritteuse auszuschalten, fielen von Leitern und sammelten alle Erfahrungen, die man im Leben so sammeln kann, Geburt, Tod, Liebe, Hass, Glück, Trauer, verwickelte Gefühle und einfache Gefühle, und alle Schattierungen dazwischen.

Und damit ist auch eigentlich schon sehr gut umschrieben, was Lanchester uns auf die Bühne bringt. Seine Geschichte spielt im Krisenjahr 2008 und als Aufhänger dienen merkwürdige Postkarten mit Bildern und DVDs mit Aufnahmen aus der Pepys Road, die plötzlich bei sämtlichen Bewohnern der Straße eintrudeln – mit der deutlichen Drohung: WIR WOLLEN,WAS IHR HABT. Viele Bewohner können darüber nur milde lächeln, denn sie sehen sich, trotzdem sie einer wohlhabenden Mittelschicht angehören, nicht im Geringsten in einer Situation, in der sie etwas hätten, was andere wollen könnten.

Die über achtzigjährige Petunia Howe zum Beispiel lebt allein und leidet in der letzten Zeit immer häufiger unter Schwindelattacken bishin zur Ohnmacht. Ihr Mann ist vor längerer Zeit gestorben, ihre Kinder sind längst aus dem Haus. Weshalb, um alles in der Welt, sollte jemand haben wollen, was sie hatte? Nach und nach werden die Bewohner der Pepys Road auf die Bühne des Romans gebeten. Der Bankangestellte Roger Yount und seine Frau Arabella, die einen derart ausschweifenden Lebensstil kultiviert haben, das der mit dekadent noch wohlwollend umschrieben ist. Smitty, Petunias Enkel und ein Konzeptkünstler, der größten Wert auf seine Anonymität legt, Shahid, Usman und Ahmed Kamal, die einen kleinen Kiosk in der Straße betreiben, Freddy Kamo, das siebzehnjährige Fußballausnahmetalent, das aus Afrika nach England kam, um für einen großen Verein zu spielen. Es ist nahezu unmöglich, sie alle zu erwähnen und ein wenig fühlte ich mich zunächst an Rowlings unglücklichen Todesfall erinnert.

Mitnichten inhaltlich, aber auch hier betreten wir die kleine Welt dieser Straße und nehmen Anteil an allen Sorgen und Nöten ihrer Bewohner. Wir sehen quasi wie der anonyme WIR WOLLEN,WAS IHR HABT-Fotograf durch ihre Fenster und beobachten, wie die Finanzkrise ihre Leben ins Wanken bringt. Ich hatte mir vorgestellt, dass diese Krise in der ganzen Geschichte eine größere Rolle einnimmt, tatsächlich ist sie eher das Klima, das in dem Roman herrscht und ihn prägt, eine Stimmung, ein laues Lüftchen, das zwar immer wahrnehmbar ist, aber selten benannt wird. Einzig im Zusammenhang mit Roger Yount findet die Krise hin und wieder deutlich Erwähnung, was aber angesichts seines Jobs als Abteilungsleiter einer großen Londoner Bank nicht verwunderlich ist. Ein viel größerer Fokus liegt auf den Schicksalen der Menschen, die man, anders als bei Rowling, einfach sofort ins Herz schließt.

Besonders bedrückend fand ich die Geschichte um Petunia Howe, die irgendwann, ernsthaft besorgt, aufgrund ihres Schwindels einen Arzt aufsucht und erfährt, dass sie einen Gehirntumor hat und vermutlich bald sterben wird. Sie ist eine alte Frau, sie hat ihr Leben gelebt. Aber dennoch werden ihre Gedanken von Lanchester auf so beklemmende Weise geschildert, dass man nicht anders kann als angesichts dieser so authentischen Worte eine Gänsehaut zu bekommen.

Also verbrachte sie den Tag in einem Zustand, der dem Säuglingsalter ähnlicher war als alles andere, was sie seither erlebt hatte. Es gab auch Augenblicke, in denen sie Angst verspürte. Manchmal geriet sie in Panik und wurde bei dem Gedanken, dass sie bald sterben musste, von blankem Entsetzen erfasst. Oder sie wurde, wenn sie über ihren Tod nachdachte, von dem Gefühl eines Verlustes überwältigt; aber dieses Gefühl war auf seltsame Weise unspezifisch. Es hatte nichts mit all den Dingen zu tun, die sie nicht mehr erleben würde, denn so vieles davon war ohnehin verblasst. Irgendwas stimmte nicht mit ihrem Geschmacks – und Geruchssinn: Kaffee, Tee, Speck und Blumen schmeckten und rochen nicht mehr wie Kaffee, Tee, Speck und Blumen; oder falls sie es doch noch taten, dann wurden die Sinneseindrücke von ihrem Gehirn nicht mehr richtig erfasst und gingen irgendwo in den synaptischen Verknüpfungen verloren. Sie hatte nicht das Gefühl, etwas Bestimmtes zu verlieren: nicht diesen Tag, dieses Licht, diesen Lufthauch, diesen Frühling. Es war ein allgemeines Gefühl des Verlusts, das zugleich mit Allem und Nichts zusammenhing. Sie verlor einfach nur. Verlor alles. Sie saß in einem Boot, das vom Hafen wegtrieb.

Solche ernsthaften, ruhigen und stimmungsvollen Momente gibt es einige, kontrastierend dazu aber auch Szenen, in denen man sich das Lachen nicht verkneifen kann, weil John Lanchester einen herrlich unprätentiösen und beiläufigen Humor hat. Dieses Buch ist wie ein richtig guter Film, der einen fesselt, rührt, erheitert, manchmal befremdet, manchmal nachdenklich aber insgesamt doch ziemlich glücklich macht! Ich kann nur jedem empfehlen, der Beschreibungen menschlichen Lebens und Erlebens mag und sich gern völlig in einen anderen Kosmos versenkt, dieses Buch zu lesen. Ich fand es richtiggehend schade, die Pepys Road und ihre Bewohner zu verlassen, wenn sie mir auch nicht alle gleichermaßen sympathisch waren. Aber Lanchester gelingt es, keinen Protagonisten in den Wirren der Geschichte verkümmern zu lassen, alle bekommen sie ein Gesicht und ihren Auftritt. Eine absolute Leseempfehlung!

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