Alle Artikel mit dem Schlagwort: kiepenheuer & witsch

Katja Lange-Müller – Drehtür

In seinem Lied Gilead, so der Name einer Klinik, singt Rainald Grebe aus der Perspektive eines Psychiatriepatienten: Bruder Gilead hat eine Drehtür, ich will raus und komme gleich wieder rein. Dass dieses Drehtürphänomen mitnichten nur den Hilfsbedürftigen, sondern auch den Helfenden ein Begriff sein kann, beweist Katja Lange-Müller eindrücklich am Beispiel einer Frau, deren Lebensinhalt das Helfen war. Asta steht am Flughafen Franz Josef Strauß und wartet auf ihr Gepäck, das irgendwo auf der Strecke hängengeblieben ist. Sie postiert sich in der Nähe einer Drehtür, in der Tasche eine Stange Camel und beobachtet die An- und Abreisenden. Immer wieder stößt sie dabei auf Menschen, die frappierende Ähnlichkeit zu einigen aus ihrer näheren oder ferneren Vergangenheit aufweisen. Während sie sich also, gestrandet zwischen Gepäckwagen und China Restaurant eine Zigarette nach der nächsten anzündet, lässt sie ihr Leben revue passieren. Es ist ein Leben, das hauptsächlich aus der Arbeit für zahlreiche internationale Hilfsorganisationen bestand. Sie ist als Krankenschwester mit einem mobilen Hospital in Nicaragua, Ulan Bator und Temeswar, opfert sich auf für die gute Sache, obgleich sie …

Julian Barnes – Am Fenster

Julian Barnes’ 2012 im Original erschienene Essays über Literatur sind kenntnisreich und kurzweilig zugleich. Sie widmen sich vergessenen und unterschätzten Autoren wie Ford Madox Ford oder zur Ikone erstarrten wie George Orwell, beschreiben detailliert die Mühen und Schwierigkeiten einer literarischen Übersetzung oder das eigene Lesen und Wiederentdecken. Sein scharfer Blick und sein Feinsinn machen die Essays zu einem Vergnügen, die Short Story hingegen wirkt eher wie Stopfmaterial. Als Junge ist Julian Barnes ein passionierter Leser, vor allem aber Sammler von Büchern ganz unterschiedlicher Provenienz. Kaum etwas, woran er kein Interesse zeigt und wofür er nicht die umliegenden Antiquariate unsicher macht. Ist das Lesen seiner Kindheit noch ziellos und begierig, entwickelt er später durchaus eine Vorliebe für wertvolle Erstausgaben zum Beispiel von Flaubert oder Dickens. Barnes bewundert die großen Amerikaner: Evelyn Waugh, Graham Greene, Ernest Hemingway. Er saugt die Literatur auf wie ein Schwamm, ohne sich stilistisch oder thematisch zu sehr einzugrenzen. Aus dieser Offenheit resultiert dann auch seine breite literarische Bildung. Ihm liegen verkannte oder missverstandene AutorInnen am Herzen. So spricht er in einem Essay …

Alison Bechdel – Wer ist hier die Mutter?

Nachdem Alison Bechdel in ,Fun Home‘ ihre Kindheit und die Beziehung zu ihrem Vater näher unter die Lupe nahm, beschäftigt sich ,Wer ist hier die Mutter?’ (Original: “Are you my mother”?) mit einem schwierigen Mutter-Tochter-Verhältnis, das sich in einem bravourösen Spagat zwischen eigenen Erinnerungen, psychoanalytischen Theorien und Virginia Woolf ein Stück zu klären beginnt. Alison Bechdel wächst in einer Kleinstadt im Nordwesten der USA auf. Ihre Eltern sind Lehrer, die nebenbei ein Bestattungsunternehmen führen, das Verhältnis ist eher unterkühlt. Das bessert sich nicht maßgeblich, nachdem sie ihren Eltern mitteilt, dass sie lesbisch ist. Die Mutter geht zunächst erschrocken auf Abstand, erzählt der Tochter jedoch dann, dass der Vater homosexuell sei und sie bereits mit mehreren Männern betrogen habe. Bechdels Vater stirbt, als sie 19 ist, bei einem Verkehrsunfall. Sie jedoch interpretiert es im Nachhinein als Selbstmord, da ihre Mutter angesichts seiner zahlreichen Affären die Scheidung eingereicht hatte. Ist ,Fun Home‘ eher die kritische Auseinandersetzung mit ihrem Vater, widmet sich Alison Bechdel in ,Wer ist hier die Mutter‘ mehr ihrer distanzierten und unnahbaren Mutter, von der …

Dave Eggers – Der Circle

Das Internet ist aus unserem Lebensalltag nicht mehr wegzudenken. Es ist Nachrichtenportal, Multimediachannel und die größte Begegnungsstätte, die es jemals gab. Doch neben den allzu nachvollziehbaren Erleichterungen, die unser Leben durch die globale Vernetzung erfährt, birgt sie in sich die Gefahren eines totalitären Systems. In Dave Eggers neuem Roman ,Der Circle’ betreten wir eine zutiefst beängstigende und nicht allzu ferne Zukunft. Mae Holland ist eine junge und trendbewusste Frau. Sie arbeitet, völlig unzeitgemäß, wie sie findet, im örtlichen Strom – und Gaswerk, bevor sie durch ihre Freundin Annie das Angebot ihres Lebens erhält. Sie darf beim ,Circle’ anfangen, einem Unternehmen, das in Coolness und Trendbewusstsein in unserer Welt wahrscheinlich ein Firmenkonglomerat aus Google, Facebook und Twitter wäre; bei Dave Eggers jedenfalls hat dieses weltumspannende Unternehmen alle Konkurrenten verschlungen. Jeder, der etwas auf sich hält, der beruflich vorankommen will, strebt zum Circle, in einer einzigen fließenden Vorwärtsbewegung. Maes Freundin Annie arbeitet schon länger beim Circle und hat ein gutes Wort für sie eingelegt. Sie darf anfangen in einem Unternehmen, dem Transparenz und Community über alles gehen. …

A.M. Homes – Auf dass uns vergeben werde

A.M. Homes‘ neuer Roman – ein Wechselbad der Gefühle. Von anfänglicher Fassungslosigkeit über das schrittweise Hineingleiten in eine Welt und eine Familie bishin zu Identifikation mit und Anerkennung für ein Buch, das unter keinen Umständen nach seinem ersten Eindruck beurteilt werden darf. Ein bösartig-schamloses, liebevolles, zutiefst menschliches und humorvolles Erlebnis. Ein erfolgreicher Fernsehproduzent und sein unscheinbarer Bruder. Ein Autounfall, bei dem zwei Menschen ums Leben kommen und einen Sohn zurücklassen. Ein Mord mit einer Nachttischlampe. Ehebruch. Nicht weniger als das geschieht auf den ersten fünfzig Seiten des neuen Romans der amerikanischen Autorin A.M. Homes, für den sie mit dem Woman’s Prize of Fiction ausgezeichnet wurde. Was manch anderer in einem ganzen Roman mühevoll zu einem Geflecht von Ereignissen verwebt, explodiert in ,Auf dass uns vergeben werde‘ sofort zu Beginn. Keine Umschweife. Kein Mitgefühl. Die Leute reden immer von der Kernfamilie als der vollkommenen Einheit, aber niemand erwähnt die Kernschmelze. Eben jene nimmt ihren fatalen Anfang, als George Silver, ganz und gar Medienmann und schon von Kindesbeinen an jähzornig, in einen Unfall verwickelt wird, bei dem …

Volker Weidermann – Ostende

Volker Weidermann ist ein deutscher Autor und Literaturkritiker. Er arbeitet als Literaturredakteur und Feuilletonchef bei der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Für ,Das Buch der verbrannten Bücher‘ wurde Weidermann 2009 mit dem Kurt-Tucholsky-Preis für literarische Publizistik ausgezeichnet. ,Ostende – 1936, Sommer der Freundschaft’ erscheint im Kiepenheuer & Witsch Verlag. Hier, an diesem überbreiten Boulevard mit den prachtvollen weißen Häusern, dem großen Casino, diesem phänomenalen Palast des Glücks. Urlaubsstimmung, Ausgelassenheit, Eiscreme, Sonnenschirme, Trägheit, Wind und bunte Bretterbuden. Trotzdem man angesichts solch idyllischer Beschreibungen tatsächlich in die Versuchung kommen könnte, den Ausflug ins belgische Ostende für einen erholsamen Ferienausflug zu halten – die Autoren, die dort im Sommer 1936 zusammenkommen, tun das mitnichten aus lauter Freude. Sie sind Exilanten, aus Nazi-Deutschland oder Österreich vertrieben, nicht mehr imstande, dort ihre Bücher an Mann und Frau zu bringen. Der Sommer 1936 birgt die Ruhe vor dem Sturm, auch für die zwei, die als Freunde im Zentrum von Volker Weidermanns kleinem Zeitpanorama stehen – Stefan Zweig und Joseph Roth. Stefan Zweig flieht durch die Welt. Streift Fessel um Fessel ab,möglichst ohne jemandem …

[5 lesen 20] Joachim Meyerhoff – Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war

Joachim Meyerhoff ist ein deutscher Schauspieler, Regisseur und Autor. Seit seiner Ausbildung an der Otto-Falckenberg-Schule in München war er bereits an zahlreichen Theatern als Ensemblemitglied beschäftigt. So zum Beispiel am Staatstheater Kassel, am Maxim Gorki Theater in Berlin und seit 2005 auch am Wiener Burgtheater. Sein Projekt “Alle Toten fliegen hoch“, die Geschichte seiner Familie episodisch in sechs Teilen auf die Bühne gebracht, erfreut sich großer Beliebtheit. Der erste Teil, ‘Amerika‘ erschien 2011 bei Kiepenheuer und Witsch in Buchform und beschreibt die Erlebnisse während seines Auslandsjahres in den USA. ‘Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war‘ erschien erst kürzlich und markiert den zweiten Teil, die Geschichte seiner Kindheit. Es steht neben neunzehn anderen Romanen auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2013. Für die meisten von uns ist die Psychiatrie ein Ort, dessen Vorhandensein wir tapfer leugnen. Es gibt ihn, in jeder größeren Stadt, aber so lange nicht wir selbst oder unsere Freunde oder Angehörigen unter einer Erkrankung leiden, die eine Unterbringung dort erfordert, bleiben sie für uns finstere Mahnmale für die …