Alle Artikel mit dem Schlagwort: emmanuel carrère

Kurz und knapp rezensiert im Juni!

Im Juni geht es um feministische Essays, ein ungewöhnliches Zoo-Exponat und die russische Schwermut aus französischer Feder. Rebecca Solnits Essayband beginnt mit einer exemplarischen Partysituation: ein Mann belehrt Solnit, ungefragt und zunächst ohne es zu wissen, über ihr eigenes Buch. Es bedarf einiger Anstrengung, um ihn davon zu unterrichten, dass das Buch, aus dessen Besprechung er so übereifrig zitiert, von der Frau stammt, die ihm gegenüber steht. Gelesen hat er es selbst noch nicht. Worum es aber geht: mit dem 2/5-Wissen glänzen und das Revier abstecken. Von da aus reißt Rebecca Solnit mit ihren Essays zahlreiche feministische Themen an: die Marginalisierung von weiblichen Stimmen in Machtpositionen (verbunden mit der Schwierigkeit, als Frau überhaupt in solche Positionen zu gelangen), die Häufigkeit von Gewalt gegen Frauen, insbesondere in Form von Vergewaltigung, Machtverschiebungen und -differenzen und die eheliche Gleichstellung von Homosexuellen. Solnit ist eine scharfe Beobachterin, die klug und differenziert argumentiert und eigene, auch unkonventionelle Gedanken entwickelt. Am Ende steht eine anregende Sammlung ganz verschiedener Texte zu den Themen Feminismus und Gleichberechtigung, die offen zutage treten lassen, was …

Emmanuel Carrère – Amok

Emmanuel Carrère ist ein brillanter Geschichtenerzähler. Vor allem deshalb, weil seine Geschichten keine fiktiven sind. Für ihn bietet das Leben selbst genug Stoff, in den er sich unumwunden einbezieht. Das tut er, wenn er von einem sowjetischen Polit-Abenteurer (“Limonow“) spricht, von Sterblichkeit (“Alles ist wahr“) oder vom Glauben (“Das Reich Gottes“, erscheint im März bei Matthes & Seitz). Carrère ist aufrichtig interessiert an allem Menschlichen – und schließt sich zu jedem Zeitpunkt in seine Beobachtungen ein. So auch in “Amok”. Amok, das im Original eigentlich L’Adversaire heißt, Der Widersacher, erschien bereits 2001. Zum jetzigen Zeitpunkt (Februar 2016) ist es ausschließlich antiquarisch erhältlich, aber es wäre nicht verwunderlich, würde ein Verlag wie Matthes & Seitz, bei dem viele seiner Werke auf Deutsch erscheinen, sich zu einer Neuauflage entschließen. Die Geschichte, die Carrère in diesem Bericht niederschreibt, ist nahezu unglaublich. Könnte man sich nicht verlässlich ihres Wahrheitsgehalts versichern, wäre man versucht, an einen nicht besonders realistischen Kriminalroman zu denken. Im Mittelpunkt steht Jean-Claude Romand, der am 09.Januar 1993 seine Frau, seine Kinder und seine Eltern tötet, nachdem …

Emmanuel Carrère – Alles ist wahr

Emmanuel Carrère ist ein französischer Schriftsteller, Drehbuchautor und Filmproduzent. Er hat bereits einige Bücher veröffentlicht – unter anderem über Werner Herzog und Philipp K.Dick – und war 2010 Jurymitglied bei den Fimfestspielen in Cannes. Seine Geschichte La Classe de neige (“Schneetreiben”), die einen väterlichen Mörder zum Protagonisten macht, wurde 1998 verfilmt. Für Limonow wurde Carrère u.a. mit dem Prix Renaudot und dem Prix de la langue francaise ausgezeichnet. ,Alles ist wahr‘ erscheint nun, wie auch sein Vorgänger, im Matthes & Seitz Verlag. Emmanuel Carrère ist wahrscheinlich, der Vergleich ist gar nicht so wagemutig, ein französischer Truman Capote. Als der seinen Tatsachenroman ,Kaltblütig‘ über eine ermordete Familie auf einer Farm in Kansas schrieb, war die Gattung des Tatsachenromans noch etwas Brandneues und Experimentelles. Niemand hatte zuvor auf diese Weise versucht, Wirklichkeit und prosaisches Schreiben miteinander zu verbinden, tatsächliche Geschehnisse nicht ausschließlich nüchtern und faktenreich aufbereitet zu präsentieren, sondern literarisch anspruchsvoll. Capote gelang eine Sensation. Sensationell ist der Tatsachenroman als solcher heute freilich nicht mehr, aber es gibt Autoren, die ihn glänzend beherrschen, diesen Balanceakt zwischen Fiktionalisierung und …