Kultur, Kurz & Knapp
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Kurz und knapp rezensiert im November!

Im November geht es um ein außergewöhnliches Talent, außergewöhnliche Taten und die Rückschau auf ein Leben.

Die Lebensgeschichte von William James Sidis hat in diesem Herbst gleich zwei Autoren zu ihren Romanen inspiriert. Neben Morten Brask schreibt auch der deutsche Autor Klaus Cäsar Zehrer über die »wahre Geschichte« eines Wunderkindes, das bereits im Kleinkindalter diverse Fremdsprachen beherrschte, inklusive einer selbst erfundenen, und mit elf Jahren in Harvard Vorlesungen über höhere Mathematik hielt. William James Sidis wird ein IQ zwischen 250 und 300 nachgesagt, sein Geist ist darauf ausgelegt, komplexe Probleme zu lösen. Sidis ist vor allem das Ergebnis eines Erziehungsexperiments, an dessen Ende, wäre es nach seinem Vater Boris Sidis gegangen, ein Patentrezept für Genies gestanden hätte. Leider entwickelt sich nicht alles wie gewünscht. William schert aus, er fällt in Ungnade, weil er zwar hervorragend denken, aber kaum mit anderen interagieren kann. Die Zwischentöne menschlichen Umgangs sind ihm fremd, Humor versteht er nicht. Klaus Cäsar Zehrer erzählt diese Geschichte breit von ihrem Beginn als Idee und Theorie bis zum bitteren Ende, mit viel Einfühlungsvermögen, gefällig, in flüssigem Stil. Wäre das Buch ein Wein, würde man es »süffig« nennen. Es ist die Geschichte einer Unterwerfung und die Geschichte einer Befreiung, man hätte Sidis junior Besseres gewünscht. Trotz mancher Längen im letzten Drittel ein sehr lesenswerter Debütroman!

Klaus Cäsar Zehrer: Das Genie. Diogenes Verlag. 656 Seiten. 25,00 €.

Heinrich Pommerenke gehört zu den berüchtigsten Verbrechern der deutschen Nachkriegsgeschichte. Ende der 50er Jahre begeht er eine Reihe von Morden, Mordversuchen und diversen anderen Übergriffen. Als Pommerenke 1959 gefasst wird, ist er gerade 22 Jahre alt. In instabilen Verhältnissen aufgewachsen und als DDR-Flüchtling in den Westen gelangt, wird Pommerenke früh verhaltensauffällig, bereits als Kind verhält er sich grenzüberschreitend. Der True-Crime-Roman von Nico Anfuso und Miron Zownir zeichnet nun einerseits die Geschichte des Frauenmörders nach, erzählt aber auch andererseits die Entstehung dieser Kapitulation. Pommerenke ist ein Buch über ein im Entstehen befindliches Buch. Die Journalistin Billie hat Heinrich Pommerenke mehrfach in der Haft besucht und interviewt. Mittels seiner Aussagen und mithilfe zeitgeschichtlicher Dokumente setzt sie behutsam seine Geschichte und die Geschichte seiner Morde zu einem Narrativ zusammen, das in ihrem eigenen Leben eine außergewöhnliche Sprengkraft entfaltet. Was zunächst nur ein Projekt ist, beginnt seine Zähne wie ein Raubtier in ihr Leben zu schlagen. Billie verliert den Halt und der Roman gewinnt im letzten Drittel eine rasante und haltlose Dynamik. Vormals klare Grenzen beginnen zu verschwimmen. All dieses Verschwimmen und Zerfließen von klaren und sicheren Zuschreibungen erzählen Anfuso und Zownir subtil und behutsam; dass der Prozess ein schleichender ist, macht ihn nur umso beängstigender. Pommerenke ist ein True-Crime-Roman, der dem konventionellen Gerüst eine beklemmende Komponente hinzufügt!

Anfuso/Zownir: Pommerenke. Culturbooks. 408 Seiten. 23,00 €

Der Sommer ihres Lebens ist die erste Zusammenarbeit zwischen Thomas von Steinaecker (»Die Verteidigung des Paradieses«) und Barbara Yelin (»Irmina«). Zunächst als mehrteiliger Webcomic veröffentlicht, erzählt er die Geschichte eines Lebens von seinem Ende her. Gerda ist alt, mittlerweile im Pflegeheim und beginnt angesichts der »Ewigkeit« an diesem letzten Ort zurückzublicken. Sie erinnert sich an ihre lebenslange Leidenschaft für Mathematik, Physik und Astronomie. Daran, dass sie als Frau mit ihrer Berufswahl der Astrophysik allein auf weiter Flur stand, an die Liebe und ihre Entscheidung, dafür ihre Karriere zu opfern. Nun könnte man fürchten, eine solche Rekapitulation habe etwas Bitteres, Verbittertes vielleicht sogar. Das bestätigt sich nicht. Viel eher steckt der Comic voller Wärme, Hingabe, voller leiser Töne. Die Farben sind nicht grell, sondern gedämpft, die Zeichnungen nicht immer klar konturiert. Desöfteren fließen Vergangenheit und Gegenwart auch zeichnerisch ineinander, reichert das Damals das Heute an. Die Liebe zur Astrophysik durchzieht den Erzählstrom, visuell und sprachlich. Der Sommer ihres Lebens steckt so viel in so vergleichsweise wenig. Große Lebensfragen (»Bin ich zufrieden, am Ende meines Lebens?«, »Habe ich gut gelebt?«, »Was ist Glück?«, »Bin ich bereit, zu gehen?«) in wunderschöne (Sprach)Bilder. Und bleibt dabei doch so bescheiden, zurückhaltend und ganz ohne Pathos. Gerdas Geschichte ist keine besondere, in ihr können sich viele spiegeln. Dieser Comic ist ein Kleinod.

Thomas von Steinaecker/Barbara Yelin: Der Sommer ihres Lebens. Reprodukt. 80 Seiten. 20,00 €.

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