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Birgit Vanderbeke – Wer dann noch lachen kann

Sie wird von ihrem Vater grün und blau geschlagen. Ihre Mutter dreht in der Küche das Radio lauter. Sie flüchtet sich in Fantasie, in ihre innere ältere Stimme, die es nur geben kann, wenn es eine Zukunft gibt. Das Leben lehrt sie früh, dass man nur selbst auf sich aufpassen kann. Birgit Vanderbekes Roman ist eine Meditation über Gewalt, die Menschen einander antun können. Aber auch über die Mittel und Wege, das zu überwinden, was sie hinterlassen hat.

Es gibt nur einen einzigen Menschen, der auf Sie aufpassen kann.
Da sind Sie. Sonst niemand.
(…)
Und wenn Sie es nicht können, kann es niemand für Sie tun.

Sie hat keinen Namen. Ihre innere Stimme nennt sie Karline. Ihr Vater nennt sie mein Augenstern. Die Familie stammt aus dem Osten und hat einige Zeit im Flüchtlingslager verbracht, bevor sie endgültig im Westen Fuß fassen kann. Der Vater arbeitet bei Hoechst, einem der drei größten Chemie- und Pharmaunternehmen des Landes. Es ist die Zeit des Vietnamkriegs. Welche Medikamente ins Haus kommen, bestimmt er. Nicht die von Bayer, höchstens von LaRoche, wenn es sein muss. Hoechst stellt kein Diazepam her, das die Mutter regelmäßig einnimmt; ein ewig schwelendes Konfliktpotential zwischen den Eltern. Karline  ist verträumt und unruhig, was ihre Mutter dazu veranlasst, sie für verrückt zu halten. Sie verabreicht ihr Psychopharmaka, zunächst Pyramidon (von Hoechst), dann Megaphen. Das Kind sei “ein Fall für die Klapse.”

Es kränkte mich, als der Mikrochinese auf meinem Globus sagte, du kannst schon gar nicht mehr richtig lachen. Wenn man nicht mehr richtig lachen kann, muss man anfangen, auf sich aufzupassen.

Karline wird regelmäßig von ihrem Vater verprügelt. Es ist, sagt sie, als überführe er ein Stoppschild, als könne er sich aus eigener Kraft nicht mehr bremsen, wenn die Mutter wieder einmal “eine väterliche Hand” fordert. Während die Schläge auf das Kind niedergehen, zieht die Mutter sich zurück und schaltet das Radio ein. Sie übertönt, wovon auch die Nachbarn nichts hören und sehen wollen. Wenn die Gewalt doch sichtbare Spuren hinterlassen hat, darf Karline der Schule fernbleiben. Sie sucht sich Inseln und imaginäre Räume, die nur ihr gehören. Die Flötenmusik, die Literatur, ihre eigene innere Stimme und den Mikrochinesen. Der taucht eines Tages auf ihrem Globus im Kinderzimmer auf und verlangt, dass sie ihm alles erzählt. In ihm manifestiert sich die Sehnsucht nach einer Vertrauensperson, ihn findet sie später in Gestalt des Kinesiologen Monsieur Monier wieder. Er ist es auch, der zu Karline nüchtern sagt, als das getrocknete Blut um ihren Mund beim Lächeln spannt und bröckelt: Wer dann noch lachen kann.

Derjenige, der gerade das Stoppschild überfahren hat, tritt auf die Bremse und sagt, was für ein Glück, dass Sie kommen, liebe Nachbarn, ich glaube, das war gerade noch knapp zur rechten Zeit, ich habe wohl eben versehentlich ein Stoppschild überfahren, ohne es überhaupt zu merken. Das hätte gewaltig ins Auge gehen können, wenn Sie mich nicht gebremst hätten, wissen Sie, ich liebe nämlich meine Tochter. Oder er sagt, ich liebe nämlich meine Frau oder wen auch immer er liebt und nicht totschlagen möchte. Und dann sagt er weiter, es wäre doch zu schade und überhaupt ein Jammer, wenn ich sie jetzt erschlagen hätte, aber ich war tatsächlich kurz davor.

Birgit Vanderbeke erzählt aus Karlines Sicht in einem Fluss, der einer Meditation gleichkommt, einer Selbstberuhigung, einer Bewusstwerdung. Man muss immer genau hinsehen, auch wenn es einem den Magen umdreht, hat schon Karlines Onkel gesagt, der bei den Nazis nicht genau hingesehen hat. Man muss auf sich selbst aufpassen. Lehrsätze, die immer wiederkehren und sich in nahezu identischen Formulierungen durch den Text ziehen. Der Roman entwickelt einen Sog, eine schmerzhafte Unmittelbarkeit, die noch verstärkt wird durch die naive, verletzliche und versehrte Erzählstimme. Karline versucht, sich freizuschreiben und ihre Geschichte zu begreifen. Manches deutet Vanderbeke bloß an, tuscht es vorsichtig an den Rand des Blickfeldes. Hier die Mutter, die ihrer Tochter unter einem Vorwand mit zwölf die Pille verschreiben lassen will, falls die auf die falsche Bahn gerät. Dort der Vater.

Übrigens habe ich Ihnen nicht erzählt, was passierte, nachdem mein Vater “Reich mir die Hand, mein Leben, komm auf mein Schloss” mit mir gepfiffen hatte. Sie wissen es also nicht. Es geht Sie nichts an. Meine Mutter wusste es auch nicht, weil sie auf dem Elternabend war oder in der Küche das Radio laut laufen hatte.
Gianni sagte also: Was hat deine Mutter gewusst?
Nichts.
Sie hat nicht gewusst, was ihr Mann mit ihrem Kind macht, aber für alle Fälle hat sie dir die Pille verschreiben lassen?, sagte Gianni.

Vanderbekes Roman wird dort besonders schmerzvoll, wo er nicht explizit ist. Wo er das Geheimnis wahrt, das dennoch offensichtlich hervortritt. Wer dann noch lachen kann ist ein beklemmendes, unbarmherziges Buch über Gewalt, ihre Rechtfertigungsversuche und das Schweigen. Bereits in Das Muschelessen beschrieb Vanderbeke eine Familiensituation, die abhängig war von einem dominanten, herrschsüchtigen Vater. Ihr aktueller Roman deutet Heilung an. Heilung durch die Aufmerksamkeit, das Hinsehen, das Ausdrücken. Wir dürfen nicht schweigen und wegsehen. Weder im Kleinen noch im Großen.

Birgit Vanderbeke: Wer dann noch lachen kann. Piper Verlag. 160 Seiten. 18,00 €.

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