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Utopien für Hand und Kopf

Brauchen wir eigentlich Utopien? “Utopisch” wird gemeinhin das genannt, was unerreichbar erscheint, überambitioniert, versponnen. Der Duden gibt als Synonyme Worte wie Kopfgeburt und Luftschloss an. Also eher etwas für die Träumer, die lieber in ihren Visionen schwelgen statt realistische Maßnahmen anzustoßen. Tatsächlich erfüllt die Utopie aber einen sinnvollen Zweck in ihrer wagemutigen, manchmal vielleicht auch naiven Vorstellung der Zukunft.

Mit den Utopien für Hand und Kopf bringt die Hamburger Edition Nautilus eine neue Reihe auf den Weg. Im Mittelpunkt stehen Texte, die eine bessere Welt zu denken wagen und sich damit bewusst gegen herrschende Interpretationsrahmen auflehnen. Sie denken die Welt weiter, erwägen die Möglichkeit der Veränderung und Entwicklung, statt bloß der Wahrung des Status Quo. Auch wenn es nach dem Diktum mancher kein Zeichen geistiger Gesundheit ist, Visionen zu haben, kann es für eine Vorwärtsentwicklung hilfreich sein, abseits ausgetretener Pfade zu denken, outside the box, sozusagen. Aus einer anderen Perspektive auf die Dinge zu schauen, vielleicht auch mit einer gewissen kindlichen Naivität und Offenheit, eröffnet manchmal Wege, wo zuvor keine waren. Das Design der Nautilus-Reihe jedenfalls geht in eine kindliche, eine unbedarfte Richtung. Es ist bunt, skizzenhaft und einfach. Wie der Philosoph über das vermeintlich Selbstverständliche staunen muss, um es zu hinterfragen, muss der Utopist die Unveränderlichkeit der Dinge ablehnen. Es geht besser, als es jetzt ist. Es geht anders. Und ich habe eine Vorstellung davon.

Ob diese Vorstellung am Ende tatsächlich eins zu eins umsetzbar ist, steht auf einem anderen Blatt. Aber allein der Wille, etwas neu und anders zu denken, kann Dinge anstoßen. Darin liegt der Vorteil einer Utopie; wenn man so will auch ihr Zweck. Katalysator zu sein für Ideen und Konzepte. Manchmal geht es dabei um greifbare Ideen, manchmal um komplette Gesellschaftsentwürfe, die eine grundlegende Neuordnung der Dinge anstreben. Zur ersten Kategorie gehören zweifellos die Reden Martin Luther Kings. Ich bin auf dem Gipfel des Berges gewesen kommt dankenswerterweise ohne die obligatorische I have a dream-Rede aus und ermöglicht einen Einblick in eine wesentlich vielschichtigere Persönlichkeit. King war nicht nur schwarzer Bürgerrechtsaktivist, der für Gleichberechtigung kämpfte. Er war sich auch der sozialen Ungleichheit in der Gesellschaft bewusst und drängte auf ihre Abschaffung. Eine wichtige Position nimmt für ihn innerhalb des politischen Handlungsspektrums auch der zivile Ungehorsam ein. Zorn, davon war er überzeugt, lässt sich in eine produktive Kraft verwandeln.

Es ist sinnlos, Schwarzen zu sagen, sie sollen nicht zornig sein, wenn sie allen Grund haben, zornig zu sein. Zudem ist es für ihren Geisteszustand besser, wenn sie ihren Zorn nicht unterdrücken, sondern ihm auf konstruktive Art Luft machen und der repressiven Gesellschaft friedlich, aber voller Elan Sand ins Getriebe streuen.

Seine Reden bieten einen guten Einblick in die Gesellschaft Amerikas in den späten 60er Jahren. King ist nicht nur ein genauer Beobachter und Analytiker, er ist auch der Überzeugung, dass die damalige Situation keine von Dauer sein kann, dass sie mit politischer Aktion veränderlich ist. Die Armen und die Abgehängten, die Ausgeschlossenen und Geächteten müssten sich ihrer Macht bewusst werden, sie sind viele, sie können Druck ausüben, müssen es sogar. Die Forderungen, die gestellt werden, sind mitnichten utopisch: Recht auf Arbeitsplätze oder regelmäßiges Einkommen, Niederreißen der Slums und Aufbau neuer Wohnviertel, eine breit angelegte Initiative gegen Armut, Kampf gegen Rassismus. Manches hat sich verändert, wenn wir es aus heutiger Perspektive betrachten, vieles jedoch nicht oder nicht genug. Insofern sind Kings Reden vielleicht doch utopisch, weil bislang in ihrer Zielsetzung unerreicht – aber unverändert gültig. Sie können auch heute noch Gedanken anstoßen, Problemlagen benennen, Ideen von einem anderen Miteinander formulieren. Einige der Reden wurden sogar für diesen Band zum ersten Mal ins Deutsche übertragen.

Ganz anders William Morris’ 1890 erschienene Kunde von Nirgendwo. Aus dem Griechischen stammend bedeutet das Wort Utopie wörtlich übersetzt Nichtland, oder eben Nirgendwo. Es bezeichnet also einen Ort, der nicht existiert und sehr wahrscheinlich nie in dieser Form existieren wird. Was nicht bedeutet, dass man ihn nicht probehalber denken könnte, diesen Nichtort. William Morris tut das in Gestalt eines Romans, der vor dem Hintergrund einer ungewöhnlichen Zeitreise von einem Mann erzählt, der sich im 19.Jahrhundert schlafen legt und im 21.Jahrhundert wieder erwacht. Aus dem dreckigen London voller qualmender Fabrikschlote ist plötzlich ein Ort des Friedens und der Freude geworden. Geld, Parlament, Gefängnis und Schulsystem gehören der Vergangenheit an. Eine gewaltsame Revolution hat die alte Ordnung dahingerafft. Die Menschen sind freundlich und fröhlich, die Architektur und das Miteinander sind von einer Wertschätzung geprägt, die dem Erzähler gänzlich fremd ist. Morris, u.a. Architekt, Ingenieur und Mitbegründer der sozialistischen Bewegung in Großbritannien, entwirft in seinem Text tatsächlich eine sozialistisch-anarchistische Utopie. Machtstrukturen wie die unseren haben sich längst überlebt und wer arbeitet, der tut das nicht, weil er muss, sondern weil er will.

Er antwortete: “Weil damit gesagt ist, dass alle Arbeit Plage sei. Wir sind von diesem Gedanken so weit entfernt, dass bei uns, die wir, wie Sie bemerkt haben werden, recht wohlhabend sind, schon die Besorgnis aufgestiegen ist, eines Tages könnten wir zu wenig Arbeit haben. Die Arbeit ist ein Vergnügen, welches wir zu verlieren fürchten, keine Plage.”

Nun liegt die Wahrheit vermutlich irgendwo dazwischen. Auch dieser Tage kommt die Frage nach dem Wesen der Arbeit wieder vermehrt auf, wenn es um die Sinnhaftigkeit eines bedingungslosen Grundeinkommens geht. Würde überhaupt noch ein Mensch arbeiten, dem sein Geld bedingungslos ausgezahlt würde? Arbeit aber ist nicht nur Lohnarbeit, nicht nur notwendiges Übel, sondern auch Erfüllung, Stärkung, Sinngebung. Vielleicht wird es Zeit, Arbeit auch anders zu denken. Utopien können dabei helfen, ohne dass man auf ihrer Basis gleich einen Umsturz planen müsste. Literarisch gesehen ist Morris’ Text natürlich weniger Sprach- und Kompositionskunst als Vehikel für eine Idee. Der Erzähler trifft immer wieder auf Menschen, die die Vergangenheit nicht kennen und bereit sind, ihm über die Gegenwart Auskunft zu geben. Und er lässt sich von dieser Gegenwart überzeugen. Trotzdem erwacht er am Ende wieder in seiner Zeit. Allerdings nicht ohne konkreten Nutzen aus seinen unerhörten Erlebnissen zu ziehen: Gehe zurück und fühle dich glücklicher, weil du uns gesehen hast und weil deinen Kämpfen etwas Hoffnung beigemischt worden ist.

Auch das kann der Zweck einer Utopie sein: Hoffnung vermitteln auf eine bessere Zukunft, wie auch immer sie konkret im Einzelnen aussehen mag. Kings Reden und Morris’ Gesellschaftsentwurf sind die ersten beiden Titel der neuen Reihe. Anfang März erscheint Oscar Wildes Die Seele des Menschen im Sozialismus. Die Idee dieser Reihe kommt, nach meinem Dafürhalten, zur richtigen Zeit. Zu einer Zeit, in der wir von negativen Zukunftsszenarien überflutet werden und positive Entwürfe rar gesät sind. Warum nicht versuchshalber wieder etwas utopischer sein und sich dabei von ambitionierten Texten inspirieren lassen?

Martin Luther King: Ich bin auf dem Gipfel des Berges gewesen. Reden. Mit Übersetzungen aus dem Englischen von Maren Hackmann-Mahajan, Rosemarie Winterberg und Heinrich W. Grosse. Edition Nautilus. 112 Seiten. Gebunden. 24 €

William Morris: Kunde von Nirgendwo. Aus dem Englischen von Natalie Liebknecht und Clara Steinitz. Edition Nautilus. 288 Seiten. Großformat. 28 €.

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