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Katja Lange-Müller – Drehtür

In seinem Lied Gilead, so der Name einer Klinik, singt Rainald Grebe aus der Perspektive eines Psychiatriepatienten: Bruder Gilead hat eine Drehtür, ich will raus und komme gleich wieder rein. Dass dieses Drehtürphänomen mitnichten nur den Hilfsbedürftigen, sondern auch den Helfenden ein Begriff sein kann, beweist Katja Lange-Müller eindrücklich am Beispiel einer Frau, deren Lebensinhalt das Helfen war.

Asta steht am Flughafen Franz Josef Strauß und wartet auf ihr Gepäck, das irgendwo auf der Strecke hängengeblieben ist. Sie postiert sich in der Nähe einer Drehtür, in der Tasche eine Stange Camel und beobachtet die An- und Abreisenden. Immer wieder stößt sie dabei auf Menschen, die frappierende Ähnlichkeit zu einigen aus ihrer näheren oder ferneren Vergangenheit aufweisen. Während sie sich also, gestrandet zwischen Gepäckwagen und China Restaurant eine Zigarette nach der nächsten anzündet, lässt sie ihr Leben revue passieren. Es ist ein Leben, das hauptsächlich aus der Arbeit für zahlreiche internationale Hilfsorganisationen bestand. Sie ist als Krankenschwester mit einem mobilen Hospital in Nicaragua, Ulan Bator und Temeswar, opfert sich auf für die gute Sache, obgleich sie sich im Laufe der Zeit bewusst wird, dass Hilfe ein zweischneidiges Schwert ist.

Ach ja, helfen, denkt Asta, das war schon schön – am Anfang. Und später? Später, Jahre später, nannte eine meiner Schwesternschülerinnen es geil. Das Wort behagte mir nicht, obwohl es irgendie zutrifft; helfen ist geil und macht geil: machtgeil.

Je mehr sie in die Geschichten hineingesogen wird, desto komplexer und verschwommener werden auch ihre Konstruktionen. Mit einer Kollegin namens Tamara – benannt nach Haydée Tamara Bunke Bíder beginnt plötzlich eine Binnenerzählung aus deren Sicht, die über die Frankfurter Buchmesse bis nach Kalkutta führt und in der Beschaffung von hunderten Nähmaschinen für indische Frauen endet. Asta jedenfalls scheint sich ihrer Erinnerungen selbst nicht mehr gewiss zu sein: “Und die Sache mit den indischen Frauen, geht die wirklich auf diese Tamara zurück? Oder weiß Asta das aus Büchern, Zeitungen, Fernsehreportagen? Gibt oder gab es Tamara Schröder überhaupt? Sicher? Wahrscheinlich? Vielleicht?” Es bleibt ungewiss, wie viele Erinnerungen auf realen Ereignissen basieren und wie viele das Ergebnis wild wuchernder Projektion sind. Asta jedenfalls, die von ihren Kollegen in den vermeintlich wohlverdienten Ruhestand “gegangen wurde”, ist orientierungslos. Nicht nur ohne Gepäck (das wortwörtliche und das sinnbildliche in Form von Hilfsbedürftigen), sondern auch sich selbst und ihrer eigenen Sprache entfremdet. Die fragile Bedeutung von Sprache macht Lange-Müller von Beginn an zum Thema.

Warum jemand hilft, ob aus omnipotentem Größenwahn oder atheistisch-humanitärer Gesinnung oder aufs Paradies spekulierender, also nicht ganz so selbstloser christlicher Nächstenliebe, ist unwichtig; dass er nicht wegschaut, sondern die Ärmel hochkrempelt, reicht fürs Erste.

Astas Zustand verschlechtert sich am Flughafen zunehmend, weder isst noch trinkt noch spricht sie. Ihre innere Stimme (“Ist das überhaupt meine Stimme? Sie hört sich an wie meine, aber gehört sie mir auch?”) untersagt es ihr; mutmaßlich in jahrzehntelanger Übung darauf trainiert, sich selbst zurückzunehmen oder allenfalls in unauflöslicher Verbindung und Abhängigkeit zu anderen zu denken. Auf der letzten Seite bietet Lange-Müller schließlich ein Erklärungskonzept für Astas Selbstaufgabe, das, wenig überraschend, den Ursprung in der Kindheit verortet. “Bin abgehauen, auch zum ersten Mal”, heißt es, “doch seitdem fast jeden Tag und schließlich für immer.” Drehtür als Roman ist, trotzdem er ein so ernsthaftes wie vielschichtiges Thema behandelt, zu keinem Zeitpunkt schwergängig; Katja Lange-Müller würzt die katastrophale Zurückgeworfenheit Astas auf sich selbst mit einiger Ironie. Stilistisch in seiner Präzision überzeugend, wäre Drehtür sicher ein Shortlist-Kandidat.

Katja Lange-Müller: Drehtür, Kiepenheuer & Witsch, 224 Seiten, 19,00 €

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