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Fragmentkörner des Alltags: Megapixel goes Liechtenstein

Welche neuen Bedingungen für das Erzählen ergeben sich aus der Überwachung – der selbstgewählten wie der fremdbestimmten? Befinden wir uns inmitten eines schleichenden Wandels? Zum Beispiel durch so ein Gerät wie den “Narrative Clip”, zu dem der Hersteller den Rat gibt, es nach Inbetriebnahme am besten gleich wieder zu vergessen. Die kleine ansteckbare Fotokamera, die ihre erzählerische Ambition bereits im Namen verrät, produziert automatisch Aufnahmen; Qualität oder Komposition sind dabei zweitrangig.

Das Ergebnis kann der eigenen Erinnerung dienen und damit im Privaten verbleiben oder Anlass geben für eine künstlerische Verarbeitung der festgehaltenen Zufallsmomente. Was 2015 erstmalig in Hildesheim erprobt wurde, setzt sich in diesem Jahr in Liechtenstein fort. Das Literaturprojekt „Megapixel“ geht in die zweite Runde, diesmal mit Heike Geißler, Michael Stauffer und Thomas Köck. Wie auch im Vorjahr wurden drei Liechtensteiner einen Tag lang mit dem „Narrative Clip“ ausgestattet, der alle dreißig Sekunden auslöst. Die Ergebnisse dieser freiwilligen Selbstkontrolle werden von den teilnehmenden AutorInnen neu als Video arrangiert und in einen erzählerischen Zusammenhang gebracht. Natürlich stellen sich angesichts einer solchen Fülle an Bildmaterial und den vergleichsweise intimen Einblicken in ein anderes Leben einige Fragen, die ich in Zusammenarbeit mit den Organisatoren an die Schreibenden richten durfte. Zur Vorgehensweise der AutorInnen einerseits, aber auch zu deren Gefühlen im Umgang mit einer kaum noch überschaubaren Flut an Daten über einen Menschen, der ihnen fremd und gleichzeitig mit seinen Bildern Rohmasse für die künstlerische Verstoffwechslung ist.

Heike Geißler

Bild: Adrian Sauer

Bild: Adrian Sauer

Gab es einzelne Bilder, die Sie sofort fasziniert haben?

Es gab Bilder, die für mich wie kleine Oasen in der Bilderflut waren. Eine Kassiererin zum Beispiel oder ein etwas grimmig schauender, in einem Wartehäuschen sitzender Mann, der von der Arbeit zu kommen scheint. Ein Bild ärgert mich sehr. Es zeigt ein Bücherregal, zeigt Buchrücken, aber ich kann partout nicht erkennen, um welche Bücher es sich handelt. Es ist eine der wirklich wenigen unscharfen Aufnahmen. Ich habe mir die Augen verrenkt beim Versuch, die Schrift auf den Buchrücken zu entziffern.

Wie gehen Sie damit um, dass Sie einen echten Menschen zum Protagonisten machen?

Angemessen, würde ich sagen. Grundsätzlich weiß ich aber nicht, ob ich das Bildmaterial eines „echten“ Menschen habe, eines „echter“ Tags … Das kann er sich doch alles ausgedacht haben. Ist das seine Wohnung? Ist das seine Frau? Ist das sein Auto? Trug immer er die Kamera? Hat er bestimmte Begegnungen extra auf diesen Tag gelegt und andere nicht? Das weiß ich alles nicht. Gleichwohl beschleicht mich der Verdacht, dass sich da zuweilen etwas wie ein echter Mensch zeigt. Dem versuche ich gerecht zu werden, indem ich ihn textlich nicht für Albernheiten, Respektlosigkeiten etc. benutze.

Könnten Sie sich vorstellen, auf der anderen Seite dieses Projekts zu stehen?

Keinesfalls.

Michael Stauffer

Garsam Marsia © Prolitteris

Garsam Marsia © Prolitteris

Gab es einzelne Bilder, die Sie sofort fasziniert haben?

Die Bilder werden erst interessant, nachdem man eine Behauptung darübergestülpt hat. Das geht relativ einfach: Ich kann Bilder von irgendjemanden anschauen und behaupten, ich finde auf jedem Bild einen Hinweis darauf, dass er Alkoholiker ist. Das geht eigentlich bei jedem Bild. Und so einen Filter braucht es, um die Bilder interessant zu machen, weil sie ohne jeden Filter aufgenommen wurden. Da muss ich mir beim Betrachten selbst einen Filter ausdenken, sonst komme ich natürlich nicht zurecht.

Wie gehen Sie damit um, dass Sie einen echten Menschen zum Protagonisten machen?

Es spielt schon eine Rolle, dass ein realer Mensch dahintersteht, aber gleichzeitig auch nicht, weil es für alle Beteiligten ein verabredetes Spiel ist. Da könnte man auch eine absolut schreckliche Geschichte erfinden und sagen, dieser Mann oder diese Frau ist schlimmer als die Pest – aber was bringt’s? Ich tendiere eher zu unterhaltenden Interpretationen als zu negativen. Es war nicht mein Interesse, einer Person einen Stempel aufzudrücken, deswegen habe ich die Geschichte so gedreht, dass sie eher übers Inhaltliche funktioniert. Natürlich brauche ich die Figur, aber die ist dann nicht so im Zentrum.

Könnten Sie sich vorstellen, auf der anderen Seite dieses Projekts zu stehen?

Ja, natürlich. Aber ich würde mir überlegen, inwiefern ich andere Menschen miteinbeziehe. Ich finde das heikel, wenn sich auf meinen Bildern nachher jemand in unvorteilhafter, ungeschminkter Pose wiederfindet und alle denken: Was ist das für eine hässliche Kuh? Ich würde wahrscheinlich versuchen, keine anderen Menschen aufzunehmen oder mich so zu drehen, dass die Köpfe abgeschnitten sind.

Thomas Köck

Bild: Elsa Sophie Jach

Bild: Elsa Sophie Jach

Gab es einzelne Bilder, die Sie sofort fasziniert haben?

Es gibt eine Reihe von Bildern, die sich absetzen. Das Problem ist so ein bisschen, bei jeder Sichtung wurden andere Bilder interessant, je nachdem, wonach man gerade sucht, was man beschreiben möchte. Ich fand es eigentlich jedes Mal berührend, wenn der Körper sichtbar wird. Diese Kamera hat ja eigentlich einen entkörperlichten Blick, wie alle Kameras. Man sieht das Bild und weiß nicht, was der Körper dahinter macht: ob er sitzt, liegt, steht, geht, arbeitet. Und jedes Mal, wenn zum Beispiel eine Hand darauf erkennbar ist, wird man wieder daran erinnert, dass hinter diesen Bildern nicht nur abstrakt ein Mensch steht, der etwas mit diesen Bildern verbindet, dass ich mir gar nicht vorstellen kann, sondern ganz konkret: Da ist eine Frau dahinter und die sieht diese Dinge jeden Tag. Aber es gibt einzelne Bilder, die dann irgendwann ein bisschen als Anker dienten, wo ich dann irgendwann dachte: Das nimmst du jetzt und fertig. Irgendwann habe ich eher auf diese Bilder reagiert und aufgehört, das zu suchen, was ich sehen muss, sondern dem zu gehorchen, was die Bilder diktieren. Das war dann ganz gut so.

Inwiefern fühlen Sie sich der Realität verpflichtet – zum Beispiel in Bezug auf Chronologie und Erzählperspektive?

Der Realität fühle ich mich sehr verpflichtet, eigentlich immer. Der Chronologie und der Narration des Bildmaterials hingegen weniger. Ich fülle ja schon die Lücken zwischen den Bildern mit meinen Fiktionen, die Chronologie und die Erzählperspektive sind von vornherein  durch meine Vorstellungen kontaminiert. Mich hat interessiert, da eine universelle Alltäglichkeit herauszuholen. Wenn man die Bilder einzeln beschreibt, merkt man, dass sie als Fragmente völlig auseinanderfallen. Dass wir eine Geschichte drum herumlegen und sagen, das ist ein Tag von einer Person, das ist schon eine gewaltige Behauptung. Analysiert man ein Bild nach dem anderen für sich, entstehen mikroskopische Fragmentkörner des Alltags – also keine Megapixel, eher Mikropixel eigentlich.

Wie sehen Sie der Aussicht entgegen, Ihren Protagonisten bei der Lesung kennenzulernen?

Ich freue mich!

Die eigene Interpretation und Auswahl des Bildmaterials, über 4000 Momentaufnahmen insgesamt, machen den künstlerischen Reiz aus und bergen gleichzeitig Gefahren, wenn sie nicht reflektiert werden. Das gilt nicht nur in Bezug auf dieses konkrete Projekt, sondern gleichermaßen im täglichen Umgang mit der medialen Bilderflut, an die wir uns gewöhnt haben. Die Organisatoren von „Megapixel“, Clara Ehrenwerth und Victor Kümel, beschreiben die Ambition des Projekts als spielerische Frage nach „dem Erzählen in der Transparenzgesellschaft“. Wir alle hinterlassen, bewusst oder unbewusst, jeden Tag Spuren unseres alltäglichen Lebens, geben sie frei zur Ver- und Bewertung durch andere. Was daraus entsteht, ist etwas Verwandeltes. An dieser Verwandlung teilzuhaben, macht das „Megapixel“-Projekt jedes Mal aufs Neue zu einer faszinierenden Angelegenheit. Die Premierenlesung findet am 10.09. in Schaan statt, eine zweite am 23.10. im Lettrétage in Berlin. Ab Ende Oktober werden die entstandenen Videos online veröffentlicht.

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