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Hans Platzgumer – Am Rand

Es heißt, von oben habe man einen besseren Überblick. Bloß folgerichtig also, dass der Protagonist in Hans Platzgumers Roman den Gipfel des Bocksbergs erklimmt, um von dort auf sein Leben zu blicken. Es war geprägt von Verlust und endet mit der Erkenntnis, dass ein lächerlich schmaler Grat zwischen Leben und Tod verläuft. Die Grenzen sind fließend, manchmal fast unsichtbar – das suggeriert schon die Typographie des Titels.

Gerold Ebner wächst in einer sogenannten Südtirolersiedlung auf. Errichtet in den 1940ern boten diese architektonisch einheitlichen Wohnanlagen denen Obdach, die sich entschlossen hatten, vor dem italienischen Faschismus unter Mussolini ins Deutsche Reich auszuwandern. Seine Mutter arbeitet als Prostituierte, bevor sie sich nach seiner Geburt für die Demut und Aufopferung entscheidet. Sie pflegt die Alten und Kranken, ihrem Sohn gegenüber bringt sie nicht viel Fürsorge auf. Schon früh wird Gerold mit dem Tod und der Möglichkeit seines plötzlichen Eintretens konfrontiert. Zuerst mit dem Tod des alten Nachbarn Gufler, der nach rund einem Jahr fast mummifiziert vor laufendem Fernseher gefunden und fortan hinter vorgehaltener Hand nur “Tuntenchgufler” genannt wird. Mit dem mutmaßlichen Unfalltod eines Jungen aus der Nachbarschaft. Mit waghalsigen Aktionen seiner Freunde, die den Nervenkitzel suchen. Es geht darum, Grenzen auszutesten und sie zu überschreiten.

Nicht nur Kräne, auch Kanalschächte oder Tunnels, durch die wir robbten, hatten es uns angetan. Oder Bahngleise, auf die wir uns mit verbundenen Augen legten. Wir blieben so lange liegen, bis wir das Singen der Gleise hörten, versuchten dann zu erraten, aus welcher Richtung der Zug kam, und warfen uns zur Seite. Das war nicht schwierig, aber trotzdem aufregend.

Auch Gerold wird im Laufe seines Lebens Grenzen überschreiten. Grenzen zwischen Leben und Tod, zwischen richtig und falsch, zwischen Legalität und strafrechtlicher Relevanz. Als sein schwer lungenkranker Großvater eines Tages vor der Tür steht und seiner Mutter nach Tyrannenart alles abverlangt, erstickt er den Todgeweihten im Schlaf. Nachdem sein bester Freund einen schweren Arbeitsunfall erlitten hat, beendet er auf dessen ausdrücklichen Wunsch hin ein Leiden, das durch keinen medizinischen Eingriff langfristig hätte gelindert werden können. Gerold wird – juristisch gesehen – zum Mörder, ohne selbst darunter zu leiden. Vielmehr gelingt es ihm, sich von sich selbst und seinen Gefühlen in den konkreten Situationen loszusagen und dem Tod “aus dem Weg zu gehen” im einem bejahenden, nicht verleugnenden Sinne des Wortes. Platzgumer verhandelt in Gestalt seines Protagonisten brisante moralische Fragen, deren Beantwortung sich diffiziler gestaltet als auf den ersten Blick angenommen.  Ist Gerold ein bösartiger, verurteilenswerter Charakter? Platzgumer beantwortet die Frage nicht, aber er stellt sie zur Debatte.

Die Wirklichkeit, an der wir festhielten, wurde von uns selbst in jedem Augenblick aufs Neue erschaffen. Dieses Anzweifeln der Realität und die Frage, ob der Stein, auf dem ich sitze, derselbe Stein wäre, würde ich nicht auf ihm sitzen, trösten mich noch heute.

Platzgumers Stil ist klar und schmucklos, vergleichbar vielleicht mit Robert Seethalers Ein ganzes Leben. Das omnipräsente Thema des Todes, sei es des vorsätzlich herbeigeführten oder plötzlich hereinbrechenden, verleiht dem Text in Verbindung mit einer feinen Beobachtungsgabe eine Tiefe und Intensität, die Sogwirkung entfaltet. Der Tod kommt in verschiedenen Gewändern: als Unfall, als Versicherung der eigenen Lebendigkeit, als Erleichterung, als grässlicher, aushöhlender Verlust, als Instrument der Macht. Immer wieder wechselt die Perspektive zwischen der Gegenwart des finalen Aufstiegs und Gerolds rekapitulierenden Aufzeichnungen, um die es sich bei Am Rand letztlich handelt. Hans Platzgumer, gemäß Herausgeberfiktion, ist nur der Übermittler dieser Lebenserinnerungen; einer Art “(Bocks)Bergpredigt”, die das Gebot Du sollst nicht töten in einem anderen Licht erscheinen lässt. Auch wenn Gerold selbst gemäß seiner Aufzeichnungen das Klare und Eindeutige bevorzugt, beweist Am Rand auf packende, eindrucksvolle Art, dass das Eindeutige selten ist. Der Rand und der unter ihm gähnende Abgrund liegen uns näher als wir glauben.

Eine weitere Besprechung kann man bei Buchpreisbloggerkollege Gérard Otremba lesen: hier.

Hans Platzgumer: Am Rand. Zsolnay & Deuticke. 208 Seiten. 19,90 €

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