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Åsne Seierstad – Einer von uns

Am 22.Juli 2011 erschüttert der Norweger Anders Behring Breivik die Welt. Weil er sich vor Überfremdung und der Marginalisierung der norwegischen und europäischen Rasse durch Muslime fürchtet, platziert er eine Bombe im Osloer Regierungsviertel und erschießt auf der kleinen Insel Utøya wahllos 69 Menschen, überwiegend Jugendliche. Sie waren dort in einem Sommercamp der norwegischen Sozialdemokraten. Insgesamt fallen ihm 77 Menschen zum Opfer. Åsne Seierstad, Auslandskorrespondentin und Kriegsreporterin, versucht in einem Hybrid aus Roman und Reportage dem Menschen Breivik und seinen Taten nachzuspüren.

Kann man Taten wie die von Anders Breivik überhaupt verstehen? Möchte man sie nachvollziehen? Wie nah will man einem Menschen kommen, der in barbarischer Weise für seine kruden politischen Überzeugungen gemordet hat? Verstehenwollen wird zu oft mit Verständnis für den Täter bzw. seine Taten verwechselt; dennoch lohnt es sich in diesem Fall. Anders Breivik wächst allein mit seiner Mutter Wenche und seiner älteren Schwester Elisabeth auf, der Vater verlässt die Familie früh. Anders ist ein unerwünschtes Kind. Seine Mutter, psychisch stark angeschlagen, ist überfordert mit dem Jungen, mit dessen Wut und Launen sie nicht umgehen kann. “Am liebsten wäre sie ihn losgeworden, klagte sie.”, heißt es bei Seierstad. Was folgt, sind Wochenendpflegefamilien, Besuche vom Jugendamt und psychiatrische Untersuchungen. Es heißt, Anders fehle es an “Spontaneität, Bewegungsdrang, Fantasie und Empathie”, er könne “seine Gefühle nicht verbal ausdrücken” und nehme “von sich aus keinen Kontakt zu anderen Kindern auf.” Bei allen Auffälligkeiten aber handle es sich nicht um irreversible Schäden, wenn die häusliche Situation durch externe Pflege entspannt wird. Zum Leidwesen aller Beteiligten ist es dazu nie gekommen.

Anders war wieder allein. (…) Was ihn von den anderen unterschied, war, dass seine Eltern nie für ihn da waren.

Åsne Seierstad schildert nun kapitelweise einerseits die Entwicklung Breiviks, andererseits das Leben einiger seiner Opfer; politisch engagierter Jugendlicher wie Simon Sæbø oder Bano Rashid, die in jungen Jahren mit ihren Eltern und ihrer Schwester als Flüchtling aus dem Irak nach Norwegen kam. Im Leben Breiviks lässt sich nach einiger Zeit ein Muster erkennen, das sich in verschiedenen Milieus wiederholt. Er giert nach Anerkennung, nach Bewunderung. Zuerst als Tagger in der Graffiti-Szene, als pathologischer World-of-Warcraft-Zocker, als Geschäftsmann mit ständig wechselnden Konzepten, dann als Nachwuchspolitiker der rechtsorientierten Fremskrittspartiet (deutsch: Fortschrittspartei). Nirgendwo kommt er an, immer neigt er dazu, sich über Wert zu verkaufen und seinen tatsächlichen Status in einer sozialen Gruppe zu verkennen. Das führt immer wieder zu Konflikten und Zurückweisung, die Breivik schwer erträgt. Noch vor der Gerichtsverhandlung, lange nach seiner Verhaftung, antwortet er auf die Frage eines Gutachters, ob er Ängste habe: “Nicht geliebt zu werden. Das muss die größte Furcht für jeden sein.” Gelegentlich driftet Seierstad mit ihren Schilderungen ins Tendentiöse ab, etwa, wenn sie Breiviks exzessives Spiel von World of Warcraft thematisiert und es heißt: “Er hatte den Titel Justitiarius errungen, für den man viele Gegner töten musste.” Es ist kein weiter Weg von einer solchen Information zu der Annahme, dass sich Breiviks Mordlust bereits hier manifestierte – auch wenn das ein unzulässig vereinfachender Trugschluss wäre; eine Scheinverbindung wie sie häufig zwischen sogenannten Killerspielen und Amokläufen gezogen wird.

Seierstad hat sich stilistisch für eine Mischung aus Roman und Reportage entschieden. Deutlich literarisierte, szenische Passagen wechseln sich ab mit nüchternen Schilderungen des Geschehens. Fraglos ist es ein Anliegen der Autorin, einigen Szenen durch eine stilisierte Erzählweise mehr Unmittelbarkeit zu verleihen. So heißt es ziemlich am Anfang in einem Kapitel: “Ein Mädchen flüsterte kaum hörbar ‘nein…”, als auch sie in den Kopf getroffen wurde. Sie zog das Wort in die Länge, bis sie verstummte.” Was näher an das Grauen heranführen soll, wirkt künstlich und aufgesetzt. Auch wenn Seierstad im Nachwort eindrücklich darlegt, dass ihre Schilderungen gänzlich auf Zeugenaussagen und Verhörprotokollen basieren, bleibt bei mancher Passage ein fader Beigeschmack. Insbesondere die fast fünfzigseitige Rekonstruktion der Geschehnisse auf Utøya lässt keine Fragen zum Ablauf offen, nichts also für schwache Nerven oder Mägen. Durch die Tatsache, dass Seierstad sich selbst als recherchierende Autorin gänzlich zurücknimmt, verschwimmen bisweilen in dieser Darstellungsform die Grenzen zwischen Realität und Fiktion. Der reale Horror liest sich plötzlich wie ein Hochgeschwindigkeitskrimi. Man kann geteilter Ansicht darüber sein, ob das dem Buch zugutekommt oder eher nicht. Kritisch hinterfragen jedenfalls muss man diese stilistische Entscheidung, die in guter Absicht zwischenzeitlich sensationslüstern wirkt.

Mit der Zeit widmete Anders immer mehr Beiträge im Forum dem Thema Islam. Noch war sein Ton zurückhaltend, bisweilen sogar versöhnlich. Am 11.Juli 2002, als fast alle im Urlaub waren, schrieb er: “Man darf nicht vergessen, dass der Islam eine große Religion ist (auf einer Linie mit dem Christentum) und dass Muslime im Allgemeinen gute Menschen (auf einer Linie mit Christen) sind.”

Nichtsdestotrotz gelingt Seierstad ein umfassendes Bild – des Täters, einiger Opfer, polizeilicher Versäumnisse, aber auch der politischen Hintergründe. Sie ist stets darum bemüht, Breiviks Aufwachsen und Erleben in einen größeren Kontext einzuordnen. Breiviks Thesen von Überfremdung, muslimischer Invasion und Antifeminismus erscheinen heute, im Jahr 2016, erschreckend mehrheitsfähig, bedenkt man die öffentlichen Debatten in den Lagern von Pegida und AfD. Im Netz wird Breivik von manchen als Held gefeiert, einige fordern seine Freilassung. Breiviks Ideen von nationalem Widerstand, vom “Befreiungskampf” erscheinen in einer Zeit, in der europäische Länder ihre Grenzen sichern und sich gegenüber Einwanderung rigoros abschotten längst nicht mehr weit hergeholt. Viele norwegische Debatten dieser Zeit wiederholen sich heute wieder in Deutschland, überhaupt in großen Teilen Europas. Auch deshalb ist Breivik mit seiner Ideologie wohl tatsächlich “einer von uns”, den wir nicht einfach aus der Gemeinschaft hinauskomplementieren können, weil er und seine Taten unbegreiflich erscheinen. Das Gericht hielt ihn bei der Urteilsverkündung für zurechnungsfähig, d.h. für nicht psychotisch. Narzisstisch sei er, dissozial, autistisch sagten gar einige. Und tatsächlich zeigt er zu keinem Zeitpunkt Mitgefühl für Opfer oder Hinterbliebene. Einzig bei der Vorführung eines von ihm selbst mit Movie Maker erstellten Videos kommen ihm öffentlich die Tränen. Ergriffen ist er einzig von sich selbst. Im April 2016 wird einer Beschwerde Breiviks über seine Haftbedingungen Rechnung getragen – ihm soll Kontakt zu Mitgefangenen gewährt werden. Einer von uns ist vereinzelt sicher in seiner Gestaltung kritisch zu hinterfragen, insgesamt aber ein beredtes und umfassend recherchiertes Zeugnis menschlicher wie auch politischer Abgründe.

Auch interessant: ,Ich verteidigte Anders Breivik. Warum?‘ von Geir Lippestadt.

Beeindruckend: Porträts der Überlebenden von Utøya. Für diese Fotos wurde Fotografin Andrea Gjestvang 2013 mit dem Sony World Photography Award ausgezeichnet.

"buchhandel.de/Åsne Seierstad: Einer von uns
Aus dem Norwegischen und Englischen und Frank Zuber und Nora Pröfrock
Kein & Aber,
544 Seiten
26,00 €

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