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Julian Barnes – Am Fenster

Julian Barnes’ 2012 im Original erschienene Essays über Literatur sind kenntnisreich und kurzweilig zugleich. Sie widmen sich vergessenen und unterschätzten Autoren wie Ford Madox Ford oder zur Ikone erstarrten wie George Orwell, beschreiben detailliert die Mühen und Schwierigkeiten einer literarischen Übersetzung oder das eigene Lesen und Wiederentdecken. Sein scharfer Blick und sein Feinsinn machen die Essays zu einem Vergnügen, die Short Story hingegen wirkt eher wie Stopfmaterial.

Als Junge ist Julian Barnes ein passionierter Leser, vor allem aber Sammler von Büchern ganz unterschiedlicher Provenienz. Kaum etwas, woran er kein Interesse zeigt und wofür er nicht die umliegenden Antiquariate unsicher macht. Ist das Lesen seiner Kindheit noch ziellos und begierig, entwickelt er später durchaus eine Vorliebe für wertvolle Erstausgaben zum Beispiel von Flaubert oder Dickens. Barnes bewundert die großen Amerikaner: Evelyn Waugh, Graham Greene, Ernest Hemingway. Er saugt die Literatur auf wie ein Schwamm, ohne sich stilistisch oder thematisch zu sehr einzugrenzen. Aus dieser Offenheit resultiert dann auch seine breite literarische Bildung. Ihm liegen verkannte oder missverstandene AutorInnen am Herzen. So spricht er in einem Essay von Penelope Fitzgerald, die erst mit ihren letzten Romanen im hohen Alter Anerkennung erlangte. Er schreibt von Arthur Cloughs Verserzählung Amours de Voyage, von Ford Madox Fords The Good Soldier, das erst kürzlich in der ZEIT-Bibliothek neu aufgelegt wurde. Mit scharfem Analyseinstrument argumentiert Barnes präzise am Text, zeigt rote Fäden und lose Enden, im einzelnen wie im Gesamtwerk. Unter dem Vergrößerungsglas seines präzisen Blicks nehmen die Werke Gestalt an, ohne an Reiz zu verlieren. Barnes gelingt es, zwar detailliert am Text zu argumentieren, ihm dabei aber sein Leben zu lassen. Er ist nicht einschläfernd, sondern anregend, mit einem Hang zur spitzen Nebenbemerkung.

Die Grenzen zwischen Büchern, die ich mochte, Büchern, von denen ich dachte, ich würde sie mögen, Büchern, von denen ich hoffte, dass ich sie mögen würde, und Büchern, die ich damals nicht mochte, doch von denen ich dachte, dass ich sie eines Tages mögen könnte, waren fließend.

Besonders eindrücklich gerät sein Essay Madame Bovary übersetzen. Zuletzt wurde der französische Klassiker von Lydia Davies übersetzt, die auch für ihre nüchternen und minimalistischen Short Stories bekannt istIn den letzten Jahren ist vielfach darüber debattiert worden, wie viel Aufmerksamkeit dem Übersetzer oder der Übersetzerin eines Werkes zukommt. Spätestens nach diesem Essay wird die Antwort lauten müssen: immer zu wenig. Barnes stellt verschiedene Übersetzungen des Textes gegenüber und erläutert die damit verbundenen Schwierigkeiten. Jede Sprache hat ihre Eigenheiten, nicht immer kann ein Rhythmus oder Wortspiel nahtlos von einer in die nächste übertragen werden. Wie sklavisch hält sich der Übersetzer oder die Übersetzerin ans Original? Ist das immer die bessere Entscheidung? Wie viel Freiheit kann eine Übersetzung vertragen? Barnes arbeitet selbst als Übersetzer aus dem Französischen und weiß demnach um die mit dem Übersetzen verbundenen Fallstricke. Auch hier: er schwadroniert nicht abstrakt von textlichen Herausforderungen, sondern zeigt genau, wo eine Übersetzung gelungen oder warum sie misslungen ist. Überhaupt ist er ein Essayist der klaren Worte – im Guten wie im Schlechten. So lobt und hofiert er Penelope Fitzgerald und John Updike, George Orwell hingegen muss einiges einstecken.

Wer ein großartiges Buch liest, flüchtet nicht vor dem Leben, sondern taucht tiefer ins Leben ein.

So lässt er sich von Orwells Ikonenimage als literarischer Prophet nicht daran hindern, hier und dort harsche Kritik an seiner Glaubwürdigkeit in Zweifel zu ziehen oder seinen Hang zum Populismus anzuprangern. Der Essay aber widmet sich nicht nur Orwell selbst, sondern auch dem faszinierenden Vorgang der Ikonisierung und Inanspruchnahme eines längst verstorbenen Autors für Debatten der Gegenwart. Man darf behaupten, dass über Orwell gemeinhin Konsens herrscht, er ist beliebt und geachtet. Außer Acht gelassen werden dabei die eher unangenehmeren Züge seines Charakters. So schreibt Barnes: Orwell verwendete “kultiviert”, “intellektuell” und “Intelligentsia” als abschätzige Bezeichnungen. (…) Er ist durchgängig homophob und benutzt Ausdrücke wie “die schwule Linke” und “Dichterschwuchteln”, als wären es feststehende soziologische Begriffe. Ein Autor, der post mortem zum Liebling der Nation avanciert, muss, so Barnes, u.a. die Eignung und Fähigkeit besitzen, das Land sich selbst und dem Ausland gegenüber so zu repräsentieren wie es sich repräsentiert sehen möchte. Auch ein patriotischer Kern (oder etwas, das so aussieht), sei förderlich. Ob man Barnes nun zustimmt oder nicht, er weiß seine Ansichten stets tadellos zu belegen und dennoch zu eigener Beschäftigung anzuregen. Egal, ob er von Kipling in Frankreich erzählt oder von Houellebecqs mangelnder Kameraeignung. Die Short-Story zu Ehren Hemingways wirkt allerdings nicht nur ihrer Platzierung wegen wie Stopfmaterial – man hat sie nicht etwa ans Ende gesetzt, sondern einfach zwischen die Essays. Die kurzen Momentaufnahmen eines bereits etwas leidenschaftslosen Professors für Schreibseminare geraten blutleer und können mit der Bissigkeit und Präzision manchen Essays nicht mithalten.

"buchhandel.de/Julian Barnes: Am Fenster
Aus dem Englischen von Gertraude Krueger, Thomas Bodmer, Alexander Brock, Peter Kleinhempel
dtv Verlag,
352 Seiten
21,99 €

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