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Clemens Setz im Interview!

© Hans Hochstöger/Focus/Suhrkamp Verlag

Mit ,Die Stunde zwischen Frau und Gitarre‘ hat Clemens Setz einen der eindringlichsten und originellsten Romane dieses Jahres geschrieben. Im Interview spricht er über Lifehacks, lebenspraktische Tipps in Büchern, die heilsame Kraft des Unsinns und vergessene Autoren.

Du sprichst sowohl in Interviews als auch durch Natalie im Roman immer wieder von sogenannten „Lifehacks“. Kleine poetische Abwandlungen des banalen Alltags, die dem Bekannten eine neue Dimension abgewinnen. Das Paare-Teilen, die temporäre Bewunderung und Verehrung einer völlig fremden Person ohne deren Wissen. Was sind deine liebsten Lifehacks? Und was bewirken sie?

Ein Lifehack, den jeder machen kann, ist, in einem Buch, das man hasst, die meisten Sätze schwarz zu übermalen, bis eine neue Kombination von Wörtern übrig bleibt, mit der man leichter leben kann.

Natalie Reinegger und ihre Wahrnehmung stehen im Mittelpunkt des Romans, grundieren ihn gleichermaßen. Du hast oft gesagt, sie sei nicht nur intelligenter, sondern auch insgesamt ein besserer Mensch als du. Welche Eigenschaften Natalies empfindest du als beneidenswert? Oder vielleicht besser: erstrebenswert.

Ihre Geduld, ihr Einfallsreichtum, ihr Mut.

Zu Beginn des Romans geht Natalie noch recht häufig „streunen“, womit in der Regel wahlloser Oralsex mit fremden Männern gemeint ist, dessen Akustik sie nicht selten mit dem Iphone aufzeichnet. Näher will sie zunächst niemanden körperlich an sich heranlassen. Dabei könnte sie vermutlich auch in Nachtclubs Männer abschleppen und mit ihnen schlafen. Man gewinnt den Eindruck, dass diese Komposition auch eine Form des Abstandhaltens ist. Kann man das so sagen?

Ja, könnte man so sagen. Es geht ihr hier mehr um die Wirkung ihrer Sätze als um intensive sexuelle Erlebnisse.

Müssen wir uns Natalie als einen einsamen Menschen vorstellen?

Nein, zumindest nicht während des gesamten Buches. Aber es gibt schon Momente, wo sie niemanden mehr hat außer dem Leser oder der Leserin, von deren Existenz sie freilich nichts ahnt.

setzhamburg

Clemens Setz und Richard Kämmerlings im Literaturhaus Hamburg

Non-sequitur Gespräche – solche also, die keinen Zweck erfüllen und denen kein roter Faden inhärent ist – sind für Natalie besonders wichtig, um Kraft zu tanken. Worin liegt die heilsame Komponente des Unsinns und des Zweckentbundenen?

Ein zierlicher, vielgliedriger Tatzelwurm verlangte seine Brille zurück.

Du hast einmal gesagt, es gefiele dir gut, in Romane kleine Lebenstipps und -tricks für den Endverbraucher einzuschmuggeln. Zu welchem lebenspraktischen Problem wünschst du dir einmal Tipps in einem Roman?

Einschlafen in Hotelzimmern. Ohrwurm-Management. Sich entlieben.

Ich habe „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ auch als eine Art Mindmap im wörtlichsten Sinne des Wortes gelesen. Als die poetische und durchaus raumgreifende Kartographie eines Geistes und einer Art, die Welt wahrzunehmen. Würdest du dem zustimmen?

Es ist so geschrieben, dass man selber dieses Bewusstsein in sich weitertragen kann für eine Weile. Ich dachte beim Schreiben viel an Harold Brodkeys „The Runaway Soul“, denn bei ihm geht das so schnell und übergangslos, dieses vollkommene Eintauchen in eine Figur. Ich weiß nicht genau, wie er es macht.

Wie reizvoll und vielleicht auch bereichernd ist es für dich – u.a. in der Rolle des Autors – einige Zeit die Wahrnehmung eines anderen auszuprobieren?

Es ist eigentlich essenziell. Sonst würde ich ja mit der Zeit selbstähnlich. Und würde innerlich aussehen wie ein Romanesco-Broccoli, oder ein anderes selbstänliches fraktales Gebilde.

Natalies Wahrnehmung gleicht der einer Hochsensiblen, deren Filtermechanismen nur bedingt funktionieren. Sämtliche Eindrücke strömen weitgehend unsortiert auf sie ein und stoßen gleichsam als Dominostein wieder andere Assoziationen, Gedanken und Erinnerungen an. Ist das Fluch oder Segen?

Ich denke, es ist für sie nicht immer leicht. Aber es ist wohl so, dass ein reflektierendes menschliches Bewusstsein generell ein Fluch ist. Denn was folgt alles daraus – das Anthropozän, die Zerstörung der Erde, das Ende der meisten Tierarten.

Wie beschreibt man Dinge, die so individuell sind, dass sie von keinem anderen außerhalb gänzlich nachempfunden werden können? Mit neuen Worten, einer Sprache, die viele Neologismen schöpft vielleicht?

Ja, das ist eine Möglichkeit. Eine andere besteht darin, dass man einfach so tut, als bestände gar keine unüberwindliche Kluft zwischen den Menschen.

Es geht im Roman natürlich auch um die destruktive Beziehung zwischen Alexander Dorm und Chrisopher Hollberg. Was reizt dich am Thema Stalking, Besessenheit und dieser Form von Täter-Opfer-Umkehr, die im Roman auf sehr subtile Weise geschieht?

Das Irritierendste am Stalking ist wahrscheinlich, dass es eine derart disruptive und zerstörerische Kraft besitzt, aber dennoch viele seiner Elemente von den traditionellen Normen unserer Gesellschaft als recht normal und erlaubt angesehen werden. Das hat sich erst in den letzten Jahren etwas verändert, scheint mir.

In einer Podiumsdiskussion, in der es u.a. um Literaturblogs ging, wurde durchaus nicht ganz unberechtigt auf die mögliche Schatzsucherfunktion eines Blogs hingewiesen, der abseits ausgetretener Pfade auf die Suche geht. Du hast in einem Gespräch u.a. Ivy Compton Burnett empfohlen. Welche vergessenen Literaten verdienen deines Erachtens eine Wieder – bzw. Neuentdeckung?

Ernst Herbeck. Jules Renard. Anton Kuh. Guy Davenport. Denton Welch.

Dein Roman leistet für mich u.a., mir das (Er)Leben, das mir bekannt zu sein scheint, auf eine neue und eindrucksvolle Art zu präsentieren und dankenswerterweise um eine Dimension zu erweitern. Was sollte gute Literatur, deiner Meinung nach, am Ende bewirken? Soll sie überhaupt irgendetwas?

So lange Literatur für ein wenig Telepathie sorgt, ist sie nicht überflüssig, denke ich.

Clemens J. Setz wurde 1982 in Graz geboren, wo er Mathematik sowie Germanistik studierte und heute als Übersetzer und freier Schriftsteller lebt. 2011 wurde er für seinen Erzählband Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Sein Roman Indigo stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2012 und wurde mit dem Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft 2013 ausgezeichnet. 2014 erschien sein erster Gedichtband Die Vogelstraußtrompete.

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