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Clemens J. Setz – Die Stunde zwischen Frau und Gitarre

Es ist der vermutlich irrsinnigste Roman dieses Jahres: “Die Stunde zwischen Frau und Gitarre”, der rund 1000-seitige Geniestreich des Grazer Autors Clemens J. Setz. Kürzlich erst mit dem Wilhelm-Raabe-Preis ausgezeichnet, präsentiert Setz ein Potpourri aus Neurose und Wahnwitz, das in beklemmender Detailgenauigkeit die Welt auf eine völlig andere Weise illustriert als wir sie kennen. Es ist kein Roman für viele, aber für die wenigen, die sich ihm hingeben können und wollen, ein intensives Erlebnis weit über die bloße Rezeption des Textes hinaus.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht die einundzwanzigjährige Natalie Reinegger, die als Betreuerin ihre Arbeit in einem Wohnheim für geistig und körperlich Behinderte beginnt. Natalie ist keineswegs gewöhnlich, vielmehr bildet sie mit ihrer vielschichtigen Wahrnehmung die Basis des Romans. Sie ist Epileptikerin, Synästhetikerin – d.h. ihre reichhaltigen Sinneseindrücke weisen einem Gefühl schonmal Scharfkantigkeit zu oder einem bestimmten Wort eine spezielle Farbe – und hat einige Zeit in einer Sekte zugebracht. Sie lebt allein mit ihrer Katze, geht noch zu Beginn des Romans regelmäßig “streunen” (womit sie vergleichsweise wahllosen Oralsex mit unterschiedlichsten Männern versteht), mischt Podcast-Geräuschcollagen aus Sex – und Essgeräuschen und führt am liebsten sogenannte “nonseq”-Gespräche, um sich zur Ruhe zu bringen. Gemeint sind damit Gespräche, deren Verlauf nicht logisch ist, deren Einwürfe nicht in konkretem Bezug zueinander stehen. Als “Bezugis”, wie sie sie nennt, bekommt sie im Wohnheim neben Mike, der nach einer schweren Kopfverletzung regelmäßig aus der Ruhe gerät und wie ein Wildgewordener alles in seinem Zimmer bekritzelt, auch den einstigen Stalker Alexander Dorm zugewiesen. Der sitzt im Rollstuhl und begegnet Natalie, auch aufgrund ihres androgynen Aussehens, zunächst äußerst kritisch. Sie ist u.a. dafür zuständig, Alexander Dorm bei seinem Make Up zu assistieren, das er immer dann in freudiger Erwartung auflegt, wenn sein ehemaliges Stalking-Opfer Christopher Hollberg wöchentlich zu Besuch erscheint. Es ist ein Arrangement, das jeder Beschreibung, jeder Logik spottet, doch von dem Personal im Wohnheim so schweigend wie mitleidig gebilligt wird. Nicht nur Christopher Hollberg ist ein Opfer Alexander Dorms, es ist besonders seine Frau, die sich nach ständigen Beschimpfungen seitens des Stalkers das Leben nahm.

Natalie verwendete nachts das Internet nur dann, wenn nirgends eine Live-Sendung zu finden war. Das Internet war auch live, aber es fühlte sich gleichzeitig an wie etwas Riesiges, das meistens tief schlief und nur punktweise geweckt werden konnte. Es tat so wenig von allein und wurde mit unvorstellbar riesigen Datenmengen vollgestopft, jeden Tag. Das Internet sprach immer mit vollem Mund.

Auf äußerst eindrucksvolle Weise gibt der Roman nicht nur tiefe, bisweilen unliebsame Einblicke in ein Seelenleben, sondern begleitet eine perfide Täter-Opfer-Umkehr, die zutiefst verstörend daherkommt. Während wir Natalie als junge Frau voller Komplexe (“Dummes Vieh”, schimpft sie sich häufig selbst) und Ticks kennenlernen, entsteht vor unseren Augen auch zusehends eine komplexe Beziehung zwischen Dorm und Hollberg, die das einstige Opfer zu voller Verfügungsgewalt über den Täter ermächtigt. Alexander Dorm nimmt die Rolle des Besessenen ein, des servilen und bedingungslos Untergeordneten unter sein Objekt der Begierde. So vertreibt er sich die Zeit damit, aus Zeitungen die Buchstabenfolgen herauszulösen, die an CHRISTOPHER erinnern oder diesen Namen aus Pinienkernen zu legen. Hollberg lässt ihn im Umkehrschluss wie einen Hund apportieren, spricht deutlich häufiger in der dritten Person von als direkt zu ihm und degradiert ihn im Versteckspiel zum Kind. Von Dorm ist diesbezüglich kein Widerspruch zu erwarten, sein “Haha, ja, genau Chris” ist die wiederholte Zustimmung zu den unterschiedlichsten Formen der Grausamkeit. Niemand scheint bisher Anstoß daran genommen zu haben, einzig Natalie zeigt sich zunehmend von dieser Art des Abkommens irritiert, je tiefer sie von Hollberg in seine Geschichten und Spiele involviert wird. Dieser Roman bekümmert sich in ausufernder Weise um Wirkung – damit ist allerdings wohltuenderweise nicht etwa seine eigene gemeint, sondern die Wirkung von ganz alltäglichen Umständen, denen man sich nicht entziehen kann. Die Wirkung von Gedanken, Gefühlen, Erinnerungen, Assoziationen, Bildern und Worten. Kaum etwas bleibt hier für sich stehen und trotzdem die Geschichte selbst sehr linear und chronologisch erzählt ist, bildet der Roman selbst in sprachgewaltiger Form den Lauf von (Natalies) Gedanken ab. Springend von einem Gegenstand zum Nächsten, ein Dominoeffekt der Assoziationen und Vorstellungen. Dieser eindrucksvolle Bilderreichtum bildet sich auch auf sprachlicher Ebene meisterhaft ab. Wohl kaum einer Metapher muss hier der vielerorts berechtigte Vorwurf gemacht werden, zu platt und inflationär gebräuchlich zu sein. Selbst der hoch im Kurs stehende Füllsatz “Irgendwo bellte ein Hund” wird mehrfach ganz beiläufig karikiert. Hier geht es auch aurig zu, astronautige Gefühle brechen sich Bahn, es gibt ein bachkieselhaftes Einrahmen, riechsalzgrelle Grüntöne.

Jetzt hörte sie einen lauten, tief ins Rückenmark gehenden Schluck Wasser, gefolgt von einem Biss in einen Apfel, so welthaltig und intim wie ein Zahnwehimpuls mitten in der Nacht, und rannte währenddessenan einer großen, toten Lagerhalle vorbei, deren Fensterscheiben von jemandem eingeworfen worden waren, damit die Seele entweichen konnte.

Dieser Roman ist ein wagemutiges Kaleidoskop aus unzähligen Eindrücken vor dem Hintergrund einer psychologisch packenden und hochgradig destruktiven Zweierbeziehung. Reich an diskussionswürdigen Themen von Einsamkeit über Wahrnehmung bishin zur besänftigenden Kraft des Unsinns, packt und rüttelt das Buch an ganz unterschiedlichen Gewissheiten des Lesers. Wenn Bücher, neben vielen anderen, die Aufgabe haben, das Leben, das wir kennen, auf eine Weise darzustellen, wie wir es nicht kennen, erfüllt “Die Stunde zwischen Frau und Gitarre” sie mit Bravour. Voller Erfindungsreichtum, sprachlicher Finesse und Kunstfertigkeit, aber auch voll Skurrilität, Humor und Ideen, die gleichzeitig originell, aber immernoch naheliegend genug sind, dass man sich fragen kann, weshalb man nicht selbst darauf gekommen ist. Es ist ein Roman für die, die das Ausgreifende, das Absurde, das Besondere im Alltäglichen und im Umkehrschluss auch das Alltägliche im Besonderen nicht scheuen. Ein literarisches Erlebnis im allerbesten Sinne.

Wie oft hatte sie diesen Satz während ihrer Ausbildung und ihrer Arbeit gesagt und das exakte Gegenteil gemeint? Irgendwann würde der Satz rebellieren und sie in den Hals beißen, wie ein Hund, der jahrelang gegen den Fellstrich gestreichelt wurde.

Weiterhin läuft zu diesem Roman auch das Social-Reading-Projekt in Zusammenarbeit mit sobooks. Für den Blog habe ich bisher zwei Artikel verfasst, die hier und hier nachzulesen sind. Nach wie vor kann sich jeder Interessent in die Diskussionen einschalten!

Hier auch ein sehr lesenswertes Interview des SZ-Magazins mit dem Autor.

"buchhandel.de/Clemens J. Setz: Die Stunde zwischen Frau und Gitarre
Suhrkamp Verlag,
1021 Seiten
29,95 €

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