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#Litsaloon Folge 1: “Bodentiefe Fenster”

S: Dass sie es sich zu schwer macht, sehe ich auch. Sie will authentischer sein als alle anderen, die sie, gerade wenn es um das ungeliebte Plenum in der Wohngenossenschaft geht, als “Zombies” wahrnimmt, die stur einer Doktrin folgen statt sie zu hinterfragen. Wenn du sagst, es ist ZU realistisch: was hätte denn mehr Verfremdung für dich bewirkt? Ich finde gerade wichtig und gut, dass es den Nagel so auf den Kopf trifft. Und dass es so beschrieben ist. Denn was ich mehrheitlich beim Lesen empfunden habe, war nicht etwa Wut, sondern Ohnmacht. Die implizite Frage ist ja auch: Ist es ein Problem, das Sandra ganz allein verantwortet oder ist es etwas Größeres?

Den Prenzlauer Berg kann man überhaupt nicht übertreiben.“

J: Das mit dem Realismus ist so eine Sache. Es könnte sein, dass die Autorin die Situationen bewusst überspitzt, sie bis ins Hanebüchene übertrieben hat, um diese gewisse Verfremdung zu erreichen – aber den Prenzlauer Berg kann man überhaupt nicht übertreiben, dazu habe ich schon viele Situationen erlebt, die eins zu eins so hätten im Buch stehen können. Ohnmacht beim Lesen ist ein gutes Stichwort. Ich habe häufiger gedacht: Was hat Sandras Mutter mit dieser antiautoritären Erziehung bewirkt – dass ihre Tochter nun so handelt? Sicherlich ist das ein gesamtgesellschaftliches Problem und nicht von Sandra alleine verursacht. Sie ist zu dieser unheimlichen Offenheit erzogen worden – und ist nun das genaue Gegenteil: über andere Beziehungen und deren vermeintliche Makel lässt es sich immer sehr leicht urteilen – aber man sollte erstmal vor seiner eigenen Haustür kehren. Die Beziehung von Sandra und ihrem Mann wirkt auch alles andere als rosig, sage ich als “Außenstehende”. In erster Linie hat mich diese Engstirnigkeit von Sandra überrascht – und ziemlich genervt.

nanediehl

Autorin Anke Stelling, Foto: Nane Diehl

S: Dieser Widerspruch zwischen äußerst offener Erziehung und späterer Engstirnigkeit ist interessant! Sandra schafft die Kurve nicht, ich habe das in meiner Rezension ein stückweit mit dem Wohnprojekt gleichgesetzt. Es wirbt damit, die perfekte Balance zu schaffen zwischen Nähe und Distanz, aber das gelingt weder im Projekt noch bei Sandra. Sie ist so nah an ihrer Umgebung, gleicht sich unentwegt mit ihr ab, dass sie diese Umgebung nicht einfach sein lassen kann wie sie ist. Ihre Nähe-Distanz-Regulierung stimmt nicht. Wobei sie ja lange mit ihren Gedanken unauffällig bleibt und erst zum Ende hin die Fassade bröckelt. Ihre Beziehung basiert irgendwie auf der scheinmodernen Annahme, dass jeder sich am besten um sich selbst kümmert, wenn es Probleme gibt. Das aktive Einschreiten, Trösten, Halten, ist gar nicht vorgesehen.

J: Es war für mich nur eine Frage der Zeit, bis Sandra schreiend mit dem Kopf gegen die Wand rennt. Dass ihr Zusammenbruch dann so still und leise erfolgt, war für mich überraschend – wenn auch gleichzeitig völlig erwartbar. Dass die Beziehung zu ihrem Mann, aber auch die Beziehung zu ihren Mitmenschen, z.B. im Hausprojekt, derart oberflächlich bleibt, fand ich ziemlich bedrückend. Man teilt so viel miteinander und gleichzeitig doch gar nichts: anstatt mal bei einem Kaffee darüber zu sprechen, wie es zwischenmenschlich in der Hausgemeinschaft klappt, hangelt man sich an ermüdenden bürokratischen Kleinigkeiten in den Plenen entlang. Ich fand das ziemlich abschreckend. Warum sind diese Menschen zusammengezogen? Bezeichnend fand ich übrigens immer wieder die Erwähnung der “bodentiefen Fenster” (die es ja hier wirklich in vielen neuen Häusern gibt): man lässt Himmel und Menschen von außen in seine Privatssphäre blicken, alle “Makel” sind sichtbar. Da muss man sich ja irgendwie auf eine andere Art und Weise von der Außenwelt abschirmen.

Viele Wohnprojekte glauben, sie täten etwas gegen Vereinzelung und Einsamkeit, oft tragen sie aber dazu bei, dass man sich genau das wieder wünscht.“

S: Ich will nicht bestreiten, dass solche Wohnprojekte funktionieren können, die meisten tun es vermutlich nicht. Viele glauben, sie täten etwas gegen Vereinzelung und Einsamkeit, oft tragen sie aber dazu bei, dass man sich genau das wieder wünscht. Sehr eindrücklich fand ich die Diskussion darüber, ob Sandra nicht künftig eine Rundmail schreiben sollte, wenn sie gemeinschaftliche Aktivitäten plant. Damit niemand sich ausgeschlossen fühlt. Sie fragt sich danach: Was hat die Menschen so unselbständig gemacht, was hat ihr Selbstvertrauen so klein werden lassen, dass sie eine schriftliche Einladung brauchen ? Diese ständige Rundumsicht, das für-alle-Mitdenken ist anstrengend und wahnsinnig. Und diese Tatsache beschreibt der Roman im Ganzen wie in seinen Einzelheiten ganz wunderbar. Du sagtest vorhin, sie sei eine Dramaqueen. Regt sie sich, so ganz grundsätzlich, nicht auch zu recht auf?

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