Kultur
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Der erste Tag in Klagenfurt

© ORF/Johannes Puch

Bereits am gestrigen Abend wurde das alljährliche Wettlesen in Klagenfurt wieder eröffnet. Es ist bereits der 39. “Bewerb”, wie es so schön heißt. Eine Institution im Literaturbetrieb, von der die einen sagen, sie habe sich überlebt und sei ein Nischenphänomen. Hubert Winkels, neuer Juryvorsitzender in Nachfolge von Burkhard Spinnen, sagte gegenüber der 3sat Kulturzeit, der Wettbewerb sei nun vielleicht angekommen, erwachsen wie nie durch seine performative Darbietungsform und die transparente Diskussion über Literatur. Wie man sich dazu auch verhalten und fühlen mag, in den meisten Fällen bietet der Bachmannpreis polarisierende Texte und angeregte Diskussionen. So auch an diesem ersten Tag.

Katerina Poladjan – ,Es ist weit bis Marseille’

"39. Tage der deutschsprachigen Literatur", "Ingeborg-Bachmann-Preis 2015 - Lesungen und Diskussionen." Am 5. Juli 2015 wird in Klagenfurt am Wörthersee der 39. Ingeborg-Bachmann-Preis vergeben. Die Tage der deutschsprachigen Literatur 2015 finden vom 1. bis 5. Juli im ORF-Theater des ORF-Landesstudios Kärnten statt. Alle Lesungen und die Preisvergabe live auf 3satIm Bild: Autorin Katerina Poladjan.  SENDUNG: 3sat - DO - 02.07.2015 - 10:00 UHR. - Veroeffentlichung fuer Pressezwecke honorarfrei ausschliesslich im Zusammenhang mit oben genannter Sendung oder Veranstaltung des ORF bei Urhebernennung.  Foto: ORF/Puch Johannes.  Anderweitige Verwendung honorarpflichtig und nur nach schriftlicher Genehmigung der ORF-Fotoredaktion.  Copyright: ORF, Wuerzburggasse 30, A-1136 Wien, Tel. +43-(0)1-87878-13606

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Katerina Poladjan tritt mit einem Text an, der Teil ihres im Herbst bei Rowohlt erscheinenden Romans ,Vielleicht Marseille‘ ist. Es liegt immer eine gewisse Schwierigkeit darin, ein Fragment aus einem größeren Textzusammenhang herauszulösen und es vor diesem Hintergrund zu betrachten. Es geht in Poladjans Text um Verlust und Verletzung und die Möglichkeiten, damit (weiter) zu leben. Anns Mann Edmund ist gestorben und sie verbringt eine Nacht mit Jean-Luc Gaspard, der am nächsten Morgen nicht nur ohne Ann, sondern auch ohne sein Auto aufwacht. Theo, Anns und Edmunds Sohn, versucht unterdessen noch immer, den Tod seines Vaters zu verwinden, dessen Verfall, dessen Verletzlichkeit. Es wird nicht die einzige Geschichte am heutigen Tage sein, in der es um die Versehrtheit von Vaterfiguren geht. Katerina Poladjan schreibt einfühlsam und bildhaft. Das Fragment setzt sich aus mehreren Perspektiven zusammen (Ann, Theo, Jean-Luc), ob sie noch zusammengeführt und verwoben werden, wird schließlich Poladjans Roman beantworten. Die Jury war gespalten. Es entspann sich eine intellektuelle Diskussion um’s Sexuelle. Zwischen sehr ambitioniert und sexuell aufgeladen schwankten die Urteile, Juri Steiner merkte gen Ende gar an: “Vielleicht denken wir auch zu orgiastisch.”  Mir hat der Text in seiner Schlichtheit, Subtilität und Einfühlsamkeit gefallen, auch wenn so manches durch den fragmentarischen Charakter natürlich (vorerst) ungeklärt bleibt.

Hier könnt ihr den Text nachlesen.

Nora Gomringer – ,Recherche

"39. Tage der deutschsprachigen Literatur", "Ingeborg-Bachmann-Preis 2015 - Lesungen und Diskussionen." Am 5. Juli 2015 wird in Klagenfurt am Wörthersee der 39. Ingeborg-Bachmann-Preis vergeben. Die Tage der deutschsprachigen Literatur 2015 finden vom 1. bis 5. Juli im ORF-Theater des ORF-Landesstudios Kärnten statt. Alle Lesungen und die Preisvergabe live auf 3satIm Bild: Autorin Nora Gomringer  SENDUNG: 3sat - DO - 02.07.2015 - 10:00 UHR. - Veroeffentlichung fuer Pressezwecke honorarfrei ausschliesslich im Zusammenhang mit oben genannter Sendung oder Veranstaltung des ORF bei Urhebernennung.  Foto: ORF/Puch Johannes.  Anderweitige Verwendung honorarpflichtig und nur nach schriftlicher Genehmigung der ORF-Fotoredaktion.  Copyright: ORF, Wuerzburggasse 30, A-1136 Wien, Tel. +43-(0)1-87878-13606

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Nora Gomringers Text gehört zu den klaren Favoriten des Tages. Es ist die tragikomisch-doppelbödige Recherche der (tatsächlich existierenden) Autorin Nora Bossong. In einem Mietshaus in der Gönnerstraße 18 ist der 13-jährige Tobias Gerling, Pflegekind der Familie Terp, nach einem Sturz vom Balkon ums Leben gekommen. Frau Bossong versucht mittels Mieterbefragung Stimmen und Atmosphäre einzufangen. Wie geht das Haus mit einer Tragödie wie dieser um? Multiperspektivisch und ungeheuer dynamisch – auch im Vortrag – wird nach und nach die Schuld eines jeden ersichtlich, der das Leiden des jungen Tobias ignoriert hat. Die Nachbarin, deren Söhne ihn drangsalierten und die es, wenig verblümt, vielleicht für besser hält, dass es passiert ist. Dass der Tobias sich das Leben genommen hat. Schließlich war er wohl schwul – das wird ihn immer “anders” machen. Selbst Tobias’ Vater schiebt den empfindsamen Jungen zu Frau Terp, er schiebt ihn ab, obwohl er im selben Haus wohnt. Schweigen, Verdrehen, Entschuldigen, Vergessen, – in diesem Mikrokosmos brodelt eine Menge. Im ersten Moment gespickt mit Anspielungen auf den Literaturbetrieb und nicht zuletzt auch auf den Bachmannpreis, entwickelt der Text im Laufe der Zeit eine Tiefe, die ihm, gerade im Kontrast zum eher Witzigen, Skurillen, sehr gut zu Gesicht steht. Die Jury wirft u.a. die Frage auf, ob der Text ohne Gomringers Lesekunst noch immer dieselbe Wirkung erzielen könnte – und stellt damit natürlich auch implizit die Frage, inwieweit die Performation in der Bewertung berücksichtigt werden sollte. Insgesamt ist die Resonanz sehr positiv. Ich kann für mich nur feststellen, dass die komödiantischen Elemente freilich eher im Vortrag besonders zur Geltung kommen. Was bei der stillen Lektüre bleibt, ist ein gewandter und spielerischer Umgang mit Sprache, – und noch immer: die Tiefe des Textes durch ganz verschiedene Blickwinkel und Stimmen. Ein Favorit! ( btw: Und überhaupt ist Nora Gomringers Auftreten erfrischend frei von artifiziellen Manierismen!)

Hier könnt ihr den Text nachlesen.

Saskia Hennig von Lange – ,Hierbleiben

"39. Tage der deutschsprachigen Literatur", "Ingeborg-Bachmann-Preis 2015 - Lesungen und Diskussionen." Am 5. Juli 2015 wird in Klagenfurt am Wörthersee der 39. Ingeborg-Bachmann-Preis vergeben. Die Tage der deutschsprachigen Literatur 2015 finden vom 1. bis 5. Juli im ORF-Theater des ORF-Landesstudios Kärnten statt. Alle Lesungen und die Preisvergabe live auf 3satIm Bild: Autorin Saskia Hennig von Lange.  SENDUNG: 3sat - DO - 02.07.2015 - 10:00 UHR. - Veroeffentlichung fuer Pressezwecke honorarfrei ausschliesslich im Zusammenhang mit oben genannter Sendung oder Veranstaltung des ORF bei Urhebernennung.  Foto: ORF/Puch Johannes.  Anderweitige Verwendung honorarpflichtig und nur nach schriftlicher Genehmigung der ORF-Fotoredaktion.  Copyright: ORF, Wuerzburggasse 30, A-1136 Wien, Tel. +43-(0)1-87878-13606

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Saskia Hennig von Langes Text plätschert leider dahin. Sprachlich zwar sehr künstlerisch und bildreich, verläuft aber in derselben Eintönigkeit, die man mitunter bei langen Autofahrten empfindet, – das kann textimmanent sein, denn das Sitzen im Auto ist die zentrale Ausgangslage des Erzählers, aber auch ein unangenehmer Nebeneffekt. Lange Autofahrten sind bisweilen einschläfernd. Ein Mann flieht vor seinem ungewollten Kind und gerät beim Fahren eines Umzugslasters, angefüllt mit fremden Möbelstücken und Habseligkeiten, in eine nahezu gedankliche Meditation über sich, dieses Kind und seine Freundin. Im Wagen bewegt er sich wegwärts, seine Gedanken schlagen die gegensätzliche Richtung ein. Immer wieder zurück zu ihr, zum gemeinsamen Alltag. “Ich kann dich vergessen in diesem Denken an Dich.”, heißt es da. Es ist ein verschriftlichtes Im-Kreis-Denken, das Hennig von Lange uns vorführt. Konzentriert in dem winzigen Raum einer Fahrerkabine. Immer wieder beginnen die Sätze mit ,Ich könnte …’, viel Konjunktiv für einen, dessen radikale Entscheidung ihn offensichtlich in seinem Laster (doppeldeutig an dieser Stelle) erstarren lässt. Es ist offenbar ein Befreiungsschlag, der weit über diese eine Entscheidung hinausgeht. Nichtsdestotrotz bleibt der Text etwas blutleer, zu sehr auf der Stelle, starr, unbeweglich, trotzdem soviel Bewegung in ihm ist. Die Jury diskutiert lange, über das Fahren auf der Autobahn ganz generell, über den Hit von Kraftwerk und schließlich sogar darüber, wie real all diese im Text auftauchenden Schilderungen sind. Meike Feßman und Sandra Kegel sind völlig geteilter Meinung darüber, ob das alles überhaupt stattfindet. Für mich ist der Text sehr real, das macht ihn aber insgesamt nicht packender. Leider!

Hier könnt ihr den Text nachlesen.

Sven Recker – ,BROT, BROT, BROT

"39. Tage der deutschsprachigen Literatur", "Ingeborg-Bachmann-Preis 2015 - Lesungen und Diskussionen." Am 5. Juli 2015 wird in Klagenfurt am Wörthersee der 39. Ingeborg-Bachmann-Preis vergeben. Die Tage der deutschsprachigen Literatur 2015 finden vom 1. bis 5. Juli im ORF-Theater des ORF-Landesstudios Kärnten statt. Alle Lesungen und die Preisvergabe live auf 3satIm Bild: Autor Sven Recker.  SENDUNG: 3sat - DO - 02.07.2015 - 10:00 UHR. - Veroeffentlichung fuer Pressezwecke honorarfrei ausschliesslich im Zusammenhang mit oben genannter Sendung oder Veranstaltung des ORF bei Urhebernennung.  Foto: ORF/Puch Johannes.  Anderweitige Verwendung honorarpflichtig und nur nach schriftlicher Genehmigung der ORF-Fotoredaktion.  Copyright: ORF, Wuerzburggasse 30, A-1136 Wien, Tel. +43-(0)1-87878-13606

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Schon nach den ersten Worten von Sven Reckers Text ist wenigstens ein Umfeld klar, in dem er angesiedelt ist: offensichtlich eine Psychiatrie. Hier wird fixiert, ans Bett gefesselt, es folgt obligatorisches Namedropping diverser Psychopharmazeutika. Da ist Drago, dessen Sprache im vermeintlich geschützten Psychiatrieumfeld und unter Einfluss diverser Medikamente deutlich auf Fäkalausdrücke zusammengeschrumpft ist. Börner, ein trockener Alkoholiker, der gerade für seine Führerscheinprüfung büffelt. Julia, eine Ärztin, die offensichtlich von sich und ihrem Leben mehr erwartet als derzeit ist. Obwohl sie weder zwischen Psychiatriemauern noch in einer (wenn auch ehemaligen) Sucht gefangen ist, ist auch ihre Freiheit begrenzt. Sven Recker taumelt in atemberaubenden Tempo durch seinen Text, es soll Performance sein, manchmal wirkt es wie Stolpern. Eine Menge Ficken und abgebrochene Sätze, eine Menge kurzer Gedanken, eine Menge Bewusstseinsstrom aus drei Perspektiven. Aber trotz aller Mühen (und vielleicht liegt da die Crux, er ist zu bemüht), packt der Text nicht. Da liegt nichts unter der Oberfläche, nichts ist zu entdecken, nichts Doppelbödiges, wenig über das Beschriebene Hinausweisendes. Nur eine Menge Dreck und Schmerz und Scheiß und Lebensüberdruss, der womöglich authentisch sein soll. Und auch, wenn es in vielen Leben genau so vorgeht, in der Psychiatrie genau so gesprochen wird: nicht immer genügt es, die (sprachlichen) Gepflogenheiten eins zu eins zu übernehmen, um Authentizität herzustellen. Die Jury sieht das leider ähnlich. Die Figuren sind zu schablonenhaft, Klaus Kastberger lässt der Text so kalt, dass er nicht einmal gegen ihn argumentieren möchte. Schade! Im Herbst erscheint in der Edition Nautilus Reckers Roman ,Krume Knock Out‘, aus dem dieser, womöglich auch nur unbeholfen wirkende, Auszug stammt.

Hier könnt ihr den Text nachlesen.

Valerie Fritsch – ,Das Bein

"39. Tage der deutschsprachigen Literatur", "Ingeborg-Bachmann-Preis 2015 - Lesungen und Diskussionen." Die Tage der deutschsprachigen Literatur 2015 finden vom 1. bis 5. Juli im ORF-Theater des ORF-Landesstudios Kärnten statt, die mit der Verleihung des Ingeborg-Bachmann-Preises am 5. Juli enden. Die Eröffnung des Bewerbes mit der Auslosung der Lesereihenfolge erfolgt am Mittwoch, dem 1. Juli. Gelesen und diskutiert wird von Donnerstag, dem 2. Juli bis Samstag, dem 4. Juli. Am Sonntag (5. Juli) findet die Schlussdiskussion mit der Preisvergabe statt. Alle Lesungen und die Preisvergabe werden live auf 3sat übertragen. Moderation: Christian Ankowitsch.Im Bild: Valerie Fritsch. - Veroeffentlichung fuer Pressezwecke honorarfrei ausschliesslich fuer die redaktionelle Berichterstattung in Zusammenhang mit Sendungen oder Veranstaltungen des ORF. Foto: ORF/Jasmin Schuller. Andere Verwendung honorarpflichtig und nur nach schriftlicher Genehmigung der ORF-Fotoredaktion. Copyright: ORF, Wuerzburggasse 30, A-1136 Wien, Tel. +43-(0)1-87878-13606

© Jasmin Schuller

Bereits in Valerie Fritschs jüngst erschienenem Roman ,Winters Garten‘ wie auch in ihrem Videoporträt zeigt sich ein gewisser Hang zu Endzeitlichkeit und der Ästhetik des Morbiden. Fritschs Text dreht sich um einen ehemaligen Tänzer, der durch einen Unfall, bei dem er Stunden unter einem umgestürzten Baum gelegen hatte, ein Bein verlor. Wortgewaltig schildert Valerie Fritsch nun den Umgang des alten Mannes mit seiner Prothese, mit dem Verlust eines Teils seiner selbst, an dessen Stelle nun eine Apparatur gerückt ist, die ihn selbst überdauern wird. Sein Sohn Gustav besucht ihn und erkennt, dass dem alten Mann im Schlaf alle Gram vom Gesicht gefegt, er gleichsam wieder ,ganz’ gemacht wird. Wenn auch nur für einige Stunden. Der Text flirrt zunächst vor Hitze, bis der Winter und mit ihm die Phantomschmerzen hereinbrechen. Der Vater nimmt sich schließlich das Leben. In Valerie Fritschs Texten steckt eine ganz eigene Form von Poesie, von Vergeblichkeit. Hoffnungsfroh sind sie nicht, sie dulden den Lauf der Dinge. Aber gerade das, in Zusammenhang mit einer einfallsreichen und dichten Sprache, die Metaphern und Vergleiche hervorbringt, die eben nicht die naheliegendsten sind, macht sie so groß. So besonders. So – im besten Sinne – schaurig. Auch die Jury war voll des Lobes, schlug Brücken zu Ödipus und alten Literaturtraditionen, deren Anleihen absolut geglückt seien. Valerie Fritsch ist die zweite deutliche Favoritin an diesem Tag, neben Nora Gomringer. Harte, fordernde, sprachlich exzellente Texte, alle beide.

Hier könnt ihr den Text nachlesen.

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