Rezensionen, Romane
Kommentare 1

Julia Wolf – Alles ist jetzt

Eines jedenfalls ist vollkommen klar: So manche Erinnerungen verfügen über scharfe Reißzähne, mit denen sie die Vergangenheit schmerzlich gegenwärtig erscheinen lassen, wann immer die Gegebenheiten günstig sind. Julia Wolfs Debütroman erzählt in drastischer und knapper Form von dem Kampf einer jungen Frau gegen die Wunden von gestern.

Ingrid ist jung und allein. Sie arbeitet in einer Live-Sex-Bar, schenkt dort Getränke aus, balanciert immer wagemutig am Abgrund entlang, pendelt hin und her zwischen Hysterie und Gleichgültigkeit. Sie hat mal an einer Tankstelle gejobbt, was sie jetzt aus ihrem Leben machen soll, ist ihr selbst ein Buch mit sieben Siegeln. Ihre Mutter ist Alkoholikerin solange Ingrid sich erinnern kann, der Vater verließ früh die Familie. Heute taucht er noch gelegentlich auf, meistens einmal im Jahr, um Ingrid die immer gleiche Frage zu stellen, es ist ein durchchoreographierter Beziehungsablauf, der von beiden wenig in Frage gestellt wird. Als Ingrid mit ihrem Bruder Gordon wieder einmal einen Pflichtbesuch bei Mutter Gabriele absolviert, “schließlich ist es ja Familie“, reißen in ihr viele alte Wunden auf, von denen sie sich wünschte, sie wären unter Verschluss geblieben, luftdicht, ohne Kontakt zur Gegenwart.

Kaum betritt Ingrid das Haus, setzt auch das Heulen ein. Es zieht durch die Räume, kreist um Ingrids Kopf, schlägt mit Fäusten gegen Türe und Wände, was tust du mir an. Etwas in Ingrid wird klein, wie ein Kind, das auf seinem Bett sitzt und lauscht. Das nicht an Gespenster glaubt und sich trotzdem fürchtet. Mama ist kein Gespenst, Mama ist einfach nur traurig.

Ingrids Mutter war häufig betrunken, torkelte orientierungslos durch’s Haus oder drehte die Musik auf volle Lautstärke, um dabei losgelöst Pirouetten zu drehen. Einen Sommer verschwindet sie sogar für einige Wochen ins Ausland, weil sie die Liebe ihres Lebens gefunden zu haben glaubt. Allein zurück bleiben Ingrid und Gordon. Und außer ihnen Moritz, ein Freund des älteren Bruders, der sich immer öfter an Ingrid vergeht. Die allerdings nimmt das erstaunlich stoisch zur Kenntnis. So ist es also, mit Sex, mit Männern, so muss es sich anfühlen, jetzt weiß sie Bescheid. Und nicht nur das, sie beginnt eine Abhängigkeit von Moritz zu entwickeln, die angesichts dessen, was passierte, nahezu krankhaft erscheinen muss. Es ist die Selbstaufopferung einer jungen Frau, für die niemand Opfer gebracht hat. Ihr Leben verschwimmt zwischen Partys, Alkohol und dem Mann, an den sie selbstzerstörerisch ihre Hoffnung auf Liebe hängt.

Die Worte zerfallen. Was war, ist vergessen. Was ist, wird sein. Da ist nur noch ihr Herzschlag, Ingrid lächelt und breitet die Arme aus. Nächtelang tanzt Ingrid inmitten von Körpern, tanzt sich lächelnd in ihren Kopf hinein, bis sie verschwunden ist.

Julia Wolf, die bisher bereits Theaterstücke und Hörspiele geschrieben hat, gelingt mit ,Alles ist jetzt’ ein intensiver und eindrücklicher Roman, dessen Unmittelbarkeit eine faszinierende Sogwirkung entwickelt. Es könnte ein ganz handelsüblicher Roman über die Dämonen einer jungen Frau sein, über den Kampf eines Mädchens mit ihrem Schmerz, der mit den üblichen Mitteln – also Alkohol, Selbstzerstörung, ziellosem Treiben – ausgefochten wird. Was ihn dann doch von dieser Art Befindlichkeitsprosa abgrenzt, ist die so deutliche und knappe Form, die ohne Umwege Anteilnahme am Schicksal dieser Frau provoziert. Freilich will man sie noch immer schütteln, ihr andere, neue Wege aufzeigen, die da wären. Aber in dieser verkürzten, kompromisslosen Art des Umgangs ist etwas Beeindruckendes, Fesselndes. Alles ist jetzt. Wir tragen noch immer irgendwo das in uns, was wir waren, wie viele Jahre auch vergangen sind. Wir sind nicht nur Phasen, die wir durchleben. In Julia Wolfs prosaischer Momentaufnahme eines Lebens korrespondieren Sprache und Inhalt auf beeindruckende Weise miteinander, – empfehlenswert ist der Roman allerdings dennoch eher für die, die vor der Schilderung persönlicher Abwege und -gründe nicht zurückschrecken. Und vorallendingen nicht für die, die einfache Lösungen erwarten.

ALLES IST JETZT Trailer from Julia Wolf on Vimeo.

 Julia Wolf: Alles ist jetzt, Frankfurter Verlagsanstalt, 160 Seiten, 9783627002114, 19,90 €

 

Weitersagen

1 Kommentare

  1. Pingback: [Literaturen] Julia Wolf – Alles ist jetzt - #Bücher | netzlesen.de

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert