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Linus Reichlin – In einem anderen Leben

Luis wächst als Kind zweier Eltern auf, die hinsichtlich ihrer Streitkultur eine frappierende Ähnlichkeit zu Richard Burton und Elizabeth Taylor aufweisen. In ,Wer hat Angst vor Virginia Woolf?’. Mindestens. Er lernt früh, selbständig zu sein, übernachtet im Keller zwischen staubigen Kartons, wenn es zu laut wird und zu hässlich. Linus Reichlins ,In einem anderen Leben’ erzählt, was übrig bleibt von dem, was man längst vergessen wollte.

Wenn sie sich streiten, fliegt auch schonmal Geschirr. Halb so schlimm. Das sind nur Dinge. Er ist Zahnarzt, sie Zahnarztgattin. Es herrscht, wenn auch an vielem anderen, so doch gewiss kein Mangel an Geld und Dingen. Viel schlimmer sind die Worte, die kleinen perfiden Herabwürdigungen, denen es wie durch Zauberhand gelingt, selbst Wände zu durchdringen und das ganze Haus zu vergiften. Ganz egal, wie viel Platz Luis auch zwischen sich und seine Eltern bringt. Die Anlässe sind nichtig, das Leben unberechenbar. Sein Vater ist nur auf dem Papier mit seiner Mutter verheiratet, eigentlich hat er täglich feste Verabredungen mit seinem White Label Whisky. Bis weit in sein Erwachsenenleben hinein wird Luis seinen Vater im Türrahmen schwanken sehen, seine eigenen kindliche Angst im Rücken, die es ihm unmöglich macht, die Situation einzuschätzen.

Dieses Schwanken und die Dunkelheit sind mir gleichermaßen unverständlich. Ich sehe, es ist mein Vater, aber ich kann ihn nicht mit seinen beänstigenden Bewegungen in Verbindung bringen. Verstehe nicht, warum er schweigt. Warum er mich nur anschaut aus dem Dunkeln heraus, in dem er sich versteckt, so kommt es mir vor. Etwas stimmt nicht mit ihm, aber auch mit mir nicht: Warum bin ich wach um diese Zeit?

Um dieser unaufhaltsam gen Abgrund strauchelnden Familie hin und wieder den Rücken zu kehren, fährt Luis’ Mutter, mit Pelzmantel und Sonnenbrille, in die Berge. Dort sitzt sie stundenlang in der Sonne und trinkt Weißwein, der seine Wirkung nur umso zügiger entfaltet je wärmer es ist. Messerscharfe Kurven auf der Abfahrt nimmt sie mit einigen Promille im Blut, bis es sie eines Tages aus der Kurve trägt. Zwar überlebt sie, bleibt aber in Gänze ein Pflegefall, – seine Mutter, sagt Luis, ist tot und doch nicht tot. Und beides stimmt ein bisschen. Die Familie entgleist völlig, die Beziehung zwischen dem angesehenen Zahnarzt und seiner Whiskyflasche wird immer enger, zwanghaft beinahe, während sich Luis’ Mutter einzig auf ein Bild zu fokussieren beginnt, von dem mysteriöserweise ihre Gesundheit abzuhängen scheint. Es ist Jan van Os’ ,Winter Landscape’. Ein Bild, das den gesamten Roman hindurch seine Bedeutung behält, seine Kreise zieht.

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Jan van Os – “Winter Landscape”, um 1750

Ich traute ihm nichts mehr zu. Nicht einmal mehr den Willen zum Trinken. Ich war sicher, er trank, weil das Trinken einfach geschah. Der Whiskey trank ihn, der Fernseher schaute ihn an. Der Miller Chair stand da, also saß mein Vater gehorsam darauf, er war das, was der Sessel brauchte.

Linus Reichlin geht in seinem Roman auf sehr feinfühlige und nuancierte Weise der Frage nach, was von einer solchen Vergangenheit im Menschen verankert bleibt, selbst wenn er das Zentrum der Konflikte längst verlassen hat. So begleiten wir Luis in Beziehungen und Jobs, in Erfahrungen, die immer wieder durchzogen sind von den Lasten früheren Erlebens. Dabei thematisiert Reichlin das aber in keiner Weise larmoyant oder selbstmitleidig, niemals so, dass man sich an den flapsigen Ausdruck einer ,schlechten Kindheit‘ erinnert fühlt, die freimütig als Entschuldigung für jeden Fehltritt missbraucht wird. Vielmehr ist es der Kampf eines Mannes gegen etwas, das trotz aller Zeit, die vergeht, noch immer eine große Macht auf ihn ausübt. Können wir uns lösen von dem, was irgendwann früher einmal geschehen ist? Und wenn wir das voller Überzeugung mit ,Ja’ beantworten – wie gelingt so eine Ablösung? ,In einem anderen Leben‘ ist sprachlich klar und präzise, ihm glückt das sicherlich schwierige Unterfangen, schreckliche Vergangenheitserfahrungen auf eine Weise in Sprache zu kleiden, die poetisch aber nicht schwülstig, authentisch, aber nicht wehleidig ist. Die Auflösung am Ende wirkt letztlich zwar etwas abrupt, mag aber einer von vielen gangbaren Wegen sein, Frieden zu schließen. ,In einem anderen Leben‘ ist eine packende Lebens – und Familiengeschichte, die einem trotz aller Tragik nicht zu schwer im Magen liegt. Lesenswert!

Linus Reichlin: In einem anderen Leben, Galiani Berlin, 380 Seiten, 978386971104, 19,99 €

Außerdem von Linus Reichlin: Das Leuchten in der Ferne.

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