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Linda Lê – FLUTwelle

Linda Lês Roman ist ein strömendes Gewässer, das den Leser in vier verschiedene Richtungen treibt. Eine Geschichte, die ansetzt, wenn alles schon geschehen ist und in der Retrospektive einen vermeintlichen Mord beleuchtet, der vielleicht doch keiner war. Klug komponiert, feinsinnig und aktuell erzählt.

Van ist tot. Augenblicklich hat er eine ganze Menge Zeit für Selbstgespräche, die verständlich machen sollen, weshalb seine Frau am Steuer des Familienautos einfach aufs Gas getreten ist, als sie ihn sah. War es kaltblütiger Mord? Ein Versehen? Eine tragische Verkettung unglücklicher Umstände? Van ist schon zu Lebzeiten ein beständiger, aber schwieriger Charakter gewesen. Seine Frau Lou und er könnten gegensätzlicher nicht sein; sie ein Freund von Kontrolle und Sicherheit, er einer, der die Genussfreuden des Lebens zu schätzen weiß. Sie Schuldirektorin, er Verlagslektor. Laure steht als ihrer beider Tochter oft mitten zwischen allen Gegensätzlichkeiten, aber klar war eigentlich schon immer: Ihre Eltern würden sich zusammenraufen.

Ich sage selbst auch lieber Firlefanz statt Unsinn oder dass etwas keinen Pfifferling wert ist statt keinen Pfennig, die Hasskappe aufhaben statt wütend sein, und ich mag Ausdrücke wie Fisimatenten, über den Löffel barbieren, kosen, Ganove und gut betucht sein… Kurz, um es weniger altbacken zu formulieren, ich bin eher out als in und alles andere als hip.

Linda Lê, selbst in Vietnam geboren und seit 1977 in Frankreich, erzählt aus vier Perspektiven nicht nur die Geschichte von Vans plötzlichem Tod, sondern gibt tiefen Einblick in die Gedanken und Geschichten aller anderen Beteiligten. Da ist Lou, deren Mutter eine stramme Ausländerfeindin ist und die Hochzeit mit Van, selbst aus Vietnam stammend, mehr als nur missbilligt. Da ist Vans Vater, der die Familie verlässt, um sich dem Vietcong anzuschließen und nie mehr zurückkommt. Da sind Ulma, Vans Halbschwester und deren Mutter Justine, eine Frau, die stets nur für ihr eigenes Vergnügen kämpfte. Weit über die individuellen Geschichten hinaus wirft Linda Lê auch einen Blick auf die französische Gesellschaft, ihre kulturellen Differenzen, steigende Ausländerfeindlichkeit und einen allgemeinen Rechtsruck. Betrachtungen, die dieser Tage angesichts der Erstarkung des Front National aktueller denn je erscheinen.

Ich wurde von manchem Wirbelsturm zerzaust und hätte fast den Verstand verloren. Als Kind habe ich alles in mich hineingefressen, als Halbwüchsige auf jede Öffnungmit Rückzug reagiert, mit dreißig war ich noch immer nicht erwachsen.

Ulma jedoch war nicht immer Teil von Vans Leben, viel mehr ist sie einer der Gründe für dessen jähes Ende. Ulma, die geheimnisvolle Halbschwester, die nicht nur Vans Herkunft, sondern auch den Verlust des Vaters an höhere Ziele und Ideale teilt. Es entsteht eine Verbundenheit, die weit über eine geschwisterliche Beziehung hinausgeht. FLUTwelle ist ein ungewöhnlicher, ein einfühlsamer Roman mit einer sehr subtilen Art von Humor. Er wirft Fragen von Herkunft und Identität auf, gespiegelt in vier verschiedenen Lebensgeschichten. Eine unbedingte Leseempfehlung!

Linda Lê: FLUTwelle, aus dem Französischen von Brigitte Große, Dörlemann Verlag, 320 Seiten, 9783038200031, 22,90 €

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