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Steine im Bauch

Eine Mutter entdeckt ihre Berufung in der Aufnahme von Pflegekindern. Ihr leiblicher Sohn droht daran zu zerbrechen. Jon Bauers Debütroman ist eine Geschichte so intensiv wie ungewöhnlich. Er stellt nicht die Frage nach dem Schicksal der Pflegekinder, er fragt nach dem Kind, das dafür zurücksteckt, immer wieder. Für ,Steine im Bauch’ erhielt Jon Bauer 2011 u.a. den Indie Award For Debut Fiction.

Weil seine Mutter schwer an Krebs erkrankt ist und ein aggressiver Hirntumor sie bereits in einen Menschen verwandelt, der ihm fremd wird, kehrt der namenlose Protagonist nach Hause zurück. Seine Mutter kann kaum noch sprechen, ist dringend auf Pflege angewiesen und kann ihm wenig entgegensetzen als er angesichts ihrer so offensichtlichen Schwäche wieder gedanklich in die Vergangenheit zurückkehrt. Nicht immer war sie so schwach und hilflos, viel mehr war er es oft, der ein offenes Ohr und Unterstützung gebraucht hätte. Stattdessen schenkte seine Mutter den wechselnden Pflegekindern ihre Liebe und Aufmerksamkeit, denen, die es nicht so gut hatten wie er. Und schafft damit ironischerweise eine Art Pflegefamiliensituation für ihr eigenes Kind, das sich immer wieder in Konkurrenz zu fremden Kindern sieht, das seiner eigenen Mutter nie genug sein kann.

Ich habe immer erzählt, ich sei ein Pflegekind, dabei war ich bei uns zu Hause der Einzige, der keines war. Und jetzt, da ich angeblich erwachsen bin, sage ich gern, dass um mich herum immernoch alles ein Pflegefall ist – mein Land, aber auch die Geschichte, die ich erzähle.

Der Achtjährige beginnt unter dem ständigen Druck, liebenswert genug für seine Mutter zu sein, um mit dem oft bedauernswerten Schicksal der Pflegekinder mitzuhalten, Ängste, fixe Ideen und vorallendingen eine ungezügelte Wut zu entwickeln. In einem dynamischen Wechsel zwischen kindlicher Perspektive und erwachsenem Standpunkt entwickelt sich in der Rückschau eine tragische Familiengeschichte, deren Unglück unmöglich nur einem einzelnen anzulasten ist. In einem Moment der unbeherrschten Angst und Wut geschieht schließlich damals ein Unfall, der die Familie unwiederbringlich auseinanderreißt und auf eine harte Probe stellt. Diese harte Probe setzt sich für den Protagonisten, das letzte verbleibende Kind, in der Pflege seiner kranken Mutter in der Gegenwart fort. Die Dämonen der Vergangenheit bekämpft er mit Wodka und dem einen oder anderen Joint. Kann man Frieden schließen mit seiner eigenen Geschichte?

Man weiß nie, wie jemand ist, solange man ihn nicht mächtig oder machtlos erlebt hat.

Welche Macht Erinnerungen haben und wie machtlos man ihnen gegenüberstehen kann, macht ,Steine im Bauch‘ unmissverständlich klar. Wenn es auch die Machtlosigkeit ist, die für alle Beteiligten überwiegt. Jeder von ihnen muss mit seiner Schuld, seinen falschen Entscheidungen, seiner Scham und seiner Hilflosigkeit leben. Nichts kann wieder gutgemacht werden, höchstens vergeben. Manchmal. Jon Bauer ist mit diesem beeindruckenden Debüt ein Buch gelungen, das erstaunlich unverblümt Einblick in das Innenleben eines Kindes und den Erwachsenen gewährt, der aus ihm geworden ist. Ein schlechter Mensch? Ein Opfer der Umstände? Glücklicherweise vermeidet der Roman alle einfachen Kategorisierungen, mit denen sich mancher schnell die Welt erklärt. Mit einer unheimlich bildhaften und packenden Sprache schreibt Jon Bauer einen Roman mit Sog – und Schlagkraft. Nicht einfach zu verdauen, manches Mal rührend, dann wieder schockierend ehrlich und offen. Ein, wie ich finde, in Thema und Gestaltung, sehr mutiges Debüt und ein echter Überraschungserfolg für mich zum Ende des Jahres!

Bei der Einsamkeit in mir geht’s nicht bloß ums Alleinsein. Es geht um das, womit ich allein bin, wenn ich allein bin. Und ich weiß nicht, wie ich mit alldem allein sein soll, mit dem ich allein bin.

Jon Bauer: Steine im Bauch, aus dem Englischen von Bernhard Robben, Kiepenheuer und Witsch Verlag, 365 Seiten, 9783462046526, 19,99 €

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