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Ron Segal – Jeder Tag wie heute

Adam Schumacher ist ein bekannter jüdischer Schriftsteller, der in die Jahre gekommen ist. Als knapp neunzigjähriger Holocaustüberlebender kehrt er zum ersten Mal nach dem Tod seiner Frau nach Deutschland zurück, um für ein Literaturmagazin sein Leben zu erzählen. Doch viel Zeit bleibt ihm nicht mehr, seine Erinnerungen werden brüchig und reißen, Fakten und Fiktion fließen ineinander.

Wer je behauptet, unmögliche Dinge könne man nicht glauben, tut das aus Mangel an Erfahrung. Würde er nur täglich eine halbe Stunde trainieren, könnte er bald noch vor dem Frühstück sogar sechs unmögliche Dinge glauben.

Adam Schumacher hat in seinem Leben schon viele unmögliche, ja, unglaubliche Dinge gesehen. Dinge, von denen einem der gesunde Menschenverstand ohne Umschweife sagen würde, sie existierten nur in seiner Fantasie. Adam ist ein angesehener jüdischer Schriftsteller, nach dem Zweiten Weltkrieg mit seiner Frau Bella nach Israel ausgewandert und hat seit diesem Tag deutschen Boden nicht mehr betreten. Doch als seine Frau Bella, eine begnadete Harfenspielerin, durch ein unglückliches Ereignis aus dem Leben gerissen wird – ironischerweise, der jüdische Humor ist hier mit Händen zu greifen, wird sie von einem Buch ihres Mannes erschlagen -, fährt der Neunzigjährige nach München, um dort den Redakteuren eines Literaturmagazins seine Lebensgeschichte und die seiner Frau zu erzählen. So, wie er sie erinnert. Bella hatte ihn immer gedrängt, nach Deutschland zu fahren, nun tut er es schließlich. Ihr zuliebe, auch wenn sie nicht mehr dabei sein kann.

Als Kind im Lager stellte ich mir vor, alle Offiziere hätten als Kopf ein Transistorgerät, eingestellt auf einen Sender, der Hitlers Reden in Endlosschleife wiederholte, wie die Reden, die ich in den Wochenschauen gesehen hatte, bevor alles anfing (…)

Als Adam beginnt, die Texte für das Magazin abzufassen, geschieht ihm Eigenartiges. Was er abends schreibt, findet er morgens bereits redigiert auf dem Tisch, ohne, dass er sich daran erinnern könnte, die Änderungen vorgenommen zu haben. Ja, die neuen Fassungen kommen ihm nicht einmal vage bekannt vor, als wären sie von einer ganz anderen Person abgefasst. So turnen die Literaturheinzelmännchen munter durch seine Arbeit, bis er im Krankenhaus erwacht. Ein Schlaganfall. Alzheimer gar, seine Erinnerungen beginnen ihm durch die Hände zu rinnen. Mal sind sie klar und deutlich, dann verbinden sie sich wieder mit den Lebensgeschichten anderer und gehen eine besondere Verbindung ein. Was ist überhaupt Erinnerung und wie kommt sie zustande? Ron Segal, selbst in Israel geboren, schreibt in diesem einfühlsamen Debüt nicht nur von dem Leben und Leiden zweier Verfolgter. Implizit stellt er die Frage nach dem Erinnern und, im Hinblick auf Adam Schumachers gelegentliche Aussetzer, das Vergessen. Als der Oberarzt ihn nach seinem Schlaganfall im Krankenhaus aufnimmt, äußert er der jungen Redakteurin Eva gegenüber Zweifel an einigen von Schumachers Geschichten. Er könne sie so gar nicht erlebt haben, sonst müsse er um ein Vielfaches älter sein. Aber ist das wichtig? Als Schumacher bewusst wird, dass er für einen kurzen Augenblick sogar seine verstorbene Frau vergessen hat, trifft er eine Entscheidung.

Man sagt, wenn der Tod zu dir ins Haus kommt, dann kehrt er wieder, als hätte er einen Schlüssel.

Ron Segals Roman ist, trotz seiner Kürze, ein beeindruckendes Stück Literatur. Manches Mal mit feinsinnigen Humor, dann mit poetischen Worten lotet er aus, was bleibt, wenn Erinnerungen vergehen und sich neu formieren, um die Lücken zu schließen. Als Opfer des Krieges beinahe gezwungen, Vieles von dem zu vergessen, was er gesehen hat, beginnt Adam Schumacher zwar im Alter, sich wieder zu erinnern; doch das Vergessen droht nun von ganz anderer Seite. Sprachmächtig, originell und berührend – der Debütromvon Ron Segal.

Ron Segal: Jeder Tag wie heute, aus dem Hebräischen von Ruth Achlama, Wallstein Verlag, 139 Seiten, 9783835315570, 17,90 €

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