Erzählungen, Rezensionen
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Karen Köhler – Wir haben Raketen geangelt

Es war eine kleine literarische Tragödie, als bekannt wurde, dass Karen Köhler aufgrund einer Windpockenerkrankung nicht beim diesjährigen Bachmannpreis antreten wird. Sie galt als eine Favoritin – völlig zu recht. Denn unbestritten gehören ihre Kurzgeschichten zu den beeindruckendsten und gewandtesten, die man augenblicklich im deutschen Literaturbetrieb finden kann. In ihrem Debüt ,Wir haben Raketen geangelt‘ erzählt Karen Köhler von den Momenten, in denen das Leben auf der Kippe steht, in denen Glück nur mehr ein Wort zu sein scheint, aus dem alle Bedeutung gewichen ist. Sie erzählt von Krankheit, Tod, Enttäuschung und Einsamkeit. Das alles aber ohne, wie es oft in der Literatur üblich ist, schwerverdaulichen Pathos, ganz ohne Schwülstigkeit und Larmoyanz. Das ist so erfrischend wie es berührend ist. Denn manchmal, ja – da ist weniger mehr.

Aus dem Radio kommt eine Treppe in den Himmel. Bill schläft unruhig, manchmal stöhnt er. Vor und hinter uns der Highway, einsam, dunkel, bisher noch keine Tankstelle, kein Diner oder Motel, nichts, wo man hätte anhalten, sich das Gesicht waschen und Bill etwas Eis besorgen können.

Ein alter Indianer rettet ein junges Mädchen in der heißen Wüstensonne vor dem Verdursten und eine tief empfundene Freundschaft entwickelt sich aus diesem Zufallsmoment. Eine junge Frau ist unheilbar an Krebs erkrankt und trifft im Krankenhaus einen alten Mann, den alle nur ,Il Comandante’ nennen. Nichts wünscht sie sich mehr als das Ende ihrer Schmerzen und die Rückkehr in ein normales Leben, Hoffnung geben kann ihr letztlich nur der alte Mann im Rollstuhl, der ein abwechslungsreiches Sprachengemisch mit einer leidenschaftlichen Liebe für Bananasplit verbindet. Postkarten aus einer Reise durch Südeuropa, der Zettel auf dem Küchentisch sagt bloß: Bin “Zigaretten holen”.

Löffeln und Schlürfen. Und wieder. Löffeln und Schlürfen. Löffeln. Und. Schlürfen.Ihre Rücken krumm. Ihre Blicke eingesperrt in Erbsensuppe. Ich schabe im Takt mit. Die Küchenuhr ist unser Metronom. Auf dem Grund ihrer Erbsensuppenteller werden Blumen sichtbar. Die Sonntagsteller habe ich in meiner Kindheit auswendig gelernt.

Es ist bewundernswert, wie scheinbar leichtfüßig sich Karen Köhler der Themen annimmt, über die man eigentlich nicht spricht. Alkoholismus in der Familie, Selbstmord, mit Schweigen und Missachtung gestrafte Coming-Outs. Und wie durch ein Wunder gelingt ihr ein Erzählton, der nichts beschönigt, manchmal aber doch ein leichtes Schmunzeln hinterlässt. Einer, der sich ernst damit auseinandersetzt, ohne alle Hoffnung fahren zu lassen. In dieser Mischung liegt die unleugbare Qualität der Erzählungen. Mit einer poetischen und bildhaften Sprache erschafft Karen Köhler Welten, in denen wir uns zuhause fühlen, in denen wir Abenteuer erleben, aber auch das Leben erfahren können, wie es manchmal ist. Grauenvoll ungerecht und übermächtig. Dazwischen Streifen von Blau und Sonne. Ein bezauberndes Debüt voller Leben, pulsierend und echt, – ob in der Wüste oder der sibirischen Einöde.

Karen Köhler: Wir haben Raketen geangelt, Hanser Verlag, 240 Seiten, 9783446246027, 19,90 €

Karen Köhlers Universum ist so mitreißend, dass Bibliophilin, Klappentexterin, Caterina, Mariki, Bücherliebhaberin und ich uns zusammengetan haben, um mit unseren Raketen von Blog zu Blog zu fliegen und euch den eindrucksvollen Erzählband aus unterschiedlichen Perspektiven zu zeigen. Dazu haben wir uns etwas Besonderes ausgedacht. Was waren wir traurig, dass Karen Köhler »il Comandante« nicht beim Bachmannpreis vortragen konnte, ist diese Erzählung doch eine, die sich ins Herz brennt und geradezu prädestiniert ist, um die Kritiker vor Erstaunen von den Plätzen zu fegen! Deshalb bekommt »il Comandante« bei uns einen Ehrenplatz: Nacheinander werden wir je einen Abschnitt daraus veröffentlichen – er ist der Sternenschweif, der uns verbindet. Am Ende habt ihr nicht nur die komplette Erzählung, wir landen auch auf unserem Gemeinschaftsblog We read Indie. Dort empfangen wir euch zusammen mit der Autorin, die uns ein schönes Interview geschenkt hat. Die Raketen-Blogtour startete am Montag und führte jeden Tag zu einer anderen Bloggerin. Seid also gespannt und lasst uns fliegen!

ilcomandante

Eine Erzählung aus ,Wir haben Raketen geangelt’

Donnerstag

Habe den ganzen Vormittag geschlafen, war von gestern sehr erschöpft. Eigentlich soll ich noch gar nicht so viel sitzen, geschweige denn Rollstühle herumschieben.»Sie haben das Mittagessen ja gar nicht angerührt«, siezt mich meine Lieblingsschwester. »Das ist jetzt der dritte Tag ohne Mittagessen und Abendbrot. Von Tee und einem Apfel am Tag werden Sie nicht wieder fit.«
»Ich weiß«, sage ich, »an apple a day keeps Kehlmann away.«
Sie lacht.
»Aber wenn das so weitergeht, muss ich es melden.« Sie
zwinkert mir zu. »Was ist denn los?«
»Habe keinen Appetit«, sage ich. Sie setzt sich auf meine Bettkante.
»Was gab es denn heute?«, fragt sie.
»Weiß nicht, hab nicht reingeschaut.«
Meine Lieblingsschwester ist meine Lieblingsschwester, weil sie daraufhin den Plastikdeckel vom Teller anhebt, die Mundwinkel nach unten zieht und meint: »Nix verpasst, würd ich sagen.« Dann räumt sie das Tablett weg und kommt mit einem Schokoriegel wieder.
»Du brauchst Kraft. Iss das hier wenigstens.«
Ich nicke und packe den Riegel aus, sie winkt mir zu und schließt leise die Tür. Ich beiße ab, obwohl mir Essen seit kurzem zuwider ist. Davon beult sich der Beutel so aus, man sieht alles, kann genau erraten, was es war, eine bunte Pampe, manchmal auch noch mit Luft vermischt. Dafür furze ich jetzt nicht mehr. Ich kann verstehen, wenn Tom mich nicht mehr will. Stelle mir vor, dass er heimlich ausgezogen ist, dass er mit Sack und Pack aus der Wohnung raus ist, weil er es nicht mehr aushält mit mir. Weil ich jetzt hässlich, krank und bedürftig
geworden bin. Ich stelle mir vor, wie er seinem besten Freund sagt, dass das nicht mehr geht mit uns. Runterschlucken. So. Schokoriegel ist im Bauch, bald im Beutel. Dingding. Nachricht vom Comandante.
Ready for Nachtisch? Cesar
Si, Comandante. I need a coffee. Meet you in 10 minutes @ café-bistro?
Yeah, Baby.

Als ich zehn Minuten später pünktlich im Krankenhaus-Café stehe, sitzt Cesar schon an seinem Fensterplatz. Wie macht er das nur. Alle anderen Tische sind belegt. Wie stellt er esan, dass er immer am selben Platz landet.
»Hello, my sweetheart«, sagt er und hebt zur Begrüßung seine Kapitänsmütze.
»Captain, my Captain«, sage ich und setze mich ihm gegenüber. Der Bistro-Chef bringt ein Banana-Split-Eis und stellt es vor Cesar ab, der sich die Hände reibt. Das gibt’s doch nicht. Der haut jeden Tag so nen Becher weg, oder wie.
»Por favor, Señor Cesar.«
»Gracias.«
»De nada. Und für die Dame?«
»Ich nehme einen Espresso.«
»Kommt sofort.«
»How are you today, sweetheart?«
»Okayisch. And you?«
»I am happy«, sagt der Comandante und lächelt in seinen Bart. Dingding. Nachricht von Tom.
»Fucking hell, I love this shit«, Cesar löffelt Sahne in sich rein.
Ich komme am Samstag. Wie geht es dir? Tom
Wie es mir geht, passt nicht in eine Kurznachricht.
Cesar guckt mich an.
»Bad news?«
»No. Good news.«
»Why are you sad then?«
»Soo. Der Espresso für die Dame.«
»Danke.«
»Gracias.«
»Bittesehr.«
»I am not sad, I am mad with my boyfriend.«
»Why?«
»He did not show up for a while. «

Und dann will der Comandante alles wissen, wie mein Freund heißt, was er macht, seit wann wir ein Paar sind, wie lange wir schon zusammenwohnen. Ich erzähle, dass er sich fünf Tage nicht hat blicken lassen, und dass ich eine Scheißangst habe, dass er mich verlässt wegen dem Krebs und dem Beutel, und dass ich jetzt hässlich bin und denke, er suche sich genau in diesem Augenblick eine andere, gesunde, beutellose, schöne und bessere Freundin. Und der Comandante sagt, dass das sicher auch für Tom alles nicht einfach sei, und fragt, ob ich Fotos von uns habe. Klar hab ich welche, in meinem Telefon stapeln sie sich. Tausendfach. Ich zeige ihm welche aus dem Urlaub im letzten Jahr. Da waren wir auf Kreta. Tom in einer Taverne mit Ouzoglas vor sich. Tom beim Lesen. Eine Verpackung von griechischem Zucker. Meine Füße im Meer. Tom und ich auf einer Fähre, meine Haare wehen, wir sind glücklich. Ich im Bikini auf einem Felsen. Eine Blüte. Ich mit einem Eis am Stil. Tom neben einem Esel.
»He’s coming on saturday«, sage ich.

»Tell him, you are happy to see him soon. Just do it.«
Aye, aye, Captain. Ich tippe artig freue mich darauf, dich zu sehen ein und klicke Senden.
»Man! You are a very pretty woman.«
»Not anymore.«
»Your hair will grow back.«
»Don’t know. I’m going to get more chemical treatment.«
»You will be alright.«
Aber ich weiß nicht, ob ich alright sein werde.
»Look at me«, sage ich, und ziehe mein Kopftuch ab, und es ist mir jetzt scheißegal, dass wir in einem Restaurant sind und Cesar gerade einen Eisbecher vor sich hat, ich hebe auch noch meinen Pullover an und zeige den Beutel. Und dann will ich von Cesar wissen, ob er sich vorstellen kann, mit einer Frau Liebe zu machen, die keine Haare am Leib und so einen Beutel am Bauch hat.
Er schweigt. Ich trinke meinen Espresso aus.
»You see«, sage ich.
»Wait«, sagt er und winkt dem Chef. »Zahlen, bitte.« Als er das erledigt hat, parkt er aus.
»Vamos! Pronto, pronto!« Cesar rollt durch die Eingangshalle am Informationsstand vorbei, rollt weiter, am Briefkasten und an den Automaten vorbei, er passiert den Kiosk, biegt dahinter links ab, direkt zum Friseurladen mit den Perücken. Schwupps ist er im Laden drin.
»No! Cesar, no!«
»Just try one.«
»Cesar, Scheiße, ich will keine Perücke, das kratzt, it’s itchy, und look, they are all very, very ugly. Das sind Omaperücken. You understand. Grandmastyle.«
»Guten Tag, kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragt die Verkäuferin.
»Wir suchen eine Haare«, sagt Cesar »but schöne Haare, not Omafrisur for this Lady.«
Die Verkäuferin hebt eine Augenbraue, dann sieht sie mich an und fragt: »Welche Länge darfs denn sein?«
»Halblang«, sage ich, und der Comandante lächelt.

Wir haben uns für einen dunkelbraunen Bob mit Pony entschieden. Das sieht zwar nach Perücke aus, ist es ja aber auch. Der Comandante meint, ich sähe aus wie Uma Thurman in Pulp Fiction. Wir sitzen draußen im Schatten einer Pappel auf einer Bank unten am See, ich mit neuen Haaren, und suchen etwas Schickes zum Anziehen für mein Date mit Tom am Samstag. Wir schauen beide in unsere Telefone und klicken uns durch Kleider und Schuhe. Cesar schlägt mir aus Spaß eine Art pinkfarbene Leberwurst vor.
»That’ll do.« Wir kichern.
Endlich habe ich ein Sommerkleid gefunden, das mir gefällt und das weit genug ist, um den Beutel zu vertuschen und trotzdem nicht wie ein Sack aussieht.
»Yeah, Baby.«
Ich klicke auf In den Einkaufswagen legen. Jetzt brauche ich noch Schuhe. Ich wähle einfarbige Ballerinas, zack, ab in den Einkaufswagen. Noch was?
»Some Make-up, maybe?«
»Bingo, sweetheart.«
Ich klicke auf einen Eyeliner, Wimperntusche, klicke die wieder weg, Wimpen, haha, erklicke mir Lidschatten und einen knallroten Lippenstift. Jetzt bezahlen. Ich wähle Overnight Express, gebe als Lieferadresse das Krankenhaus mit Station und Zimmernummer an. Fertig. Wir strahlen.
»I love the Internet«, sagt Cesar und holt einen Joint aus seinem Hipbag. »Do you smoke?«
Der Himmel ist blau. Das Gras ist grün. Die Sonne scheint.
Ich nicke und mache ein Foto von uns.

Die vorherigen und nächsten Teile der Geschichte findet ihr auf folgenden Blogs: Teil 1 bei Schöne Seiten, Teil 2 bei Bibliophilin, Teil 3 bei Klappentexterin, Teil 4 hier bei mir, Teil 5 im Bücherwurmloch, Teil 6 bei glasperlenspiel13 und zum Abschluss dieser Tour ein Interview mit Karen Köhler auf We Read Indie.

Viel Spaß!

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