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George Saunders – Zehnter Dezember

Ein Hauen und Stechen um die gesellschaftlichen Logenplätze, in George Saunders neuer Kurzgeschichtensammlung ,Zehnter Dezember’ geht es nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich zur Sache. Lassen Sie mich durch, ich habe Ellbogen.

George Saunders gilt in den USA als großer Satiriker. Ins Groteske, manchmal Wahnsinnige gesteigerte Geschichten erzählen von einer Welt, in der wir morgen leben, von einer Zukunft, die womöglich schon Gegenwart geworden ist – ohne, dass es von vielen bemerkt worden wäre. Gleichförmige Konsumkultur, Wettbewerbskämpfe auf allen erdenklichen Positionen, eine durchökonomisierte Gesellschaft ohne Mitgefühl – in George Saunders Kurzgeschichten, für die er bereits mehrfach ausgezeichnet wurde, ist diese Welt bereits Realität. Darüber kann man lachen, schmunzeln bestenfalls – muss man aber nicht. Denn in dieser haltlosen Übersteigerung bildet sich nur literarisch eine Gesellschaft ab, die das Streben nach Mehr zur sinnstiftenden Prämisse ihres Lebens erkoren hat.

Ein schlaksiger Junge, der eine Entführung beobachtet und im letzten Moment entscheidet, gegen die Anweisungen des Vaters das heimische Grundstück zu verlassen, um dem Entführer den Kopf einzuschlagen. Ein Familienvater, der seiner Tochter im Konkurrenzkampf mit anderen die bestmögliche Position verschaffen will und dabei einen überraschenden Lottogewinn mindestens ebenso überraschend sinnlos zum Fenster hinauswirft. Ein Straftäter, der statt im gängigen Vollzug seine Strafe abzusitzen, als Versuchskaninchen einer Medikamentenstudie dient. Medikamente, die Liebe, Attraktivität, Eloquenz und Aufrichtigkeit verleihen – oder sie entziehen, wenn es notwendig ist.

Notiz an mich selbst: Versuchen, gute Gefühle rund um Rubbellosgewinn in alle Lebensbereiche zu übertragen. Deutlich präsenter bei der Arbeit werden. Leiter schneller hochsteigen (fröhlich, inkl. Lächeln auf dem Gesicht), Gehaltserhöhung kriegen. In Lebensbestform kommen, besser anziehen. Gitarre lernen? Bewusst Schönheit der Welt bemerken?

Saunders Charaktere scheitern. An sich. An ihren Ansprüchen. An ihren Leben und denen der anderen. Auf den ersten Blick scheint manches beinahe aus einem Science-Fiction Roman entlehnt – so gibt es freilich bisher kein Mittel, das kurz nach Einnahme zum redegewandten Dichter macht -, doch der Gedanke dahinter, nämlich der kurzfristiger Leistungssteigerung für ein optimales, für ein perfektes Auftreten, ist kein fremder. George Saunders bedient sich einiger Versatzstücke unserer Gesellschaft, um sie gründlich auf die Frage hin zu untersuchen: Wie könnte es schlimmstenfalls weitergehen? Damit befindet er sich durchaus in guter Gesellschaft zu Literaten der klassischen Science Fiction wie Orwell und Huxley, die man heute, wo wir es besser wissen, visionär nennt.

Liebe ist, wenn man jemanden so mag, wie er ist, und ihm hilft, noch besser zu werden.

George Saunders Geschichten sind derb, inhaltlich wie sprachlich. Es wird eine Menge gebumst, gefickt und gelitten. Nichts für zarte Gemüter, nichts für Freunde der poetischen Formulierung. Sie sind voller Wut, Enttäuschung und Abscheu, gerade deshalb aber vermutlich so echt, so unpoliert. Man ist sich beim Lesen immer im Klaren darüber, dass hier nicht jemand einfach nur eine Geschichte erzählt, wie sie ihm eben in der Beschaulichkeit seines Nussbaumholzbüros zufällt. Hier ist ein feiner Beobachter am Werk, der die Umstände, unter denen wir heute leben, gekonnt zu überzeichnen versteht. Manches Mal mag Saunders damit ein bisschen über’s Ziel hinausschießen, so sehr ins Experimentelle abdriften, dass die Verständlichkeit leidet. Doch das große Ganze, der Überbau, – der steht. Erstaunlich fest, wie ein Faustschlag ins Gesicht.

Zu lachen gibt es darüber eigentlich wenig, zu schmunzeln vielleicht, wenn wir auf diese Art mit der Widersinnigkeit vieler heiliger Werte konfrontiert sind. Leistung, Ansehen, Profit – für die meisten kommt im Leben irgendwann ein Moment, in dem diese bisher so granitenen Stützpfeiler schlagartig an Bedeutung verlieren. Für die Protagonisten in Saunders’ Geschichten ist dieser Moment bereits eingetreten. Sie haben verloren. Sich selbst, ihren Reichtum, ihr Ansehen, einen Menschen. Und was vielleicht das Grausamste ist – die meisten von ihnen finden keinen Ersatz.

George Saunders: Zehnter Dezember, Luchterhand Literaturverlag, aus dem Amerikanischen von Frank Heibert, 269 Seiten, 9783630874272, 19,99 €

Außerdem: Das Bücherwurmloch über George Saunders.

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