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A.M. Homes – Auf dass uns vergeben werde

A.M. Homes‘ neuer Roman – ein Wechselbad der Gefühle. Von anfänglicher Fassungslosigkeit über das schrittweise Hineingleiten in eine Welt und eine Familie bishin zu Identifikation mit und Anerkennung für ein Buch, das unter keinen Umständen nach seinem ersten Eindruck beurteilt werden darf. Ein bösartig-schamloses, liebevolles, zutiefst menschliches und humorvolles Erlebnis.

Ein erfolgreicher Fernsehproduzent und sein unscheinbarer Bruder. Ein Autounfall, bei dem zwei Menschen ums Leben kommen und einen Sohn zurücklassen. Ein Mord mit einer Nachttischlampe. Ehebruch. Nicht weniger als das geschieht auf den ersten fünfzig Seiten des neuen Romans der amerikanischen Autorin A.M. Homes, für den sie mit dem Woman’s Prize of Fiction ausgezeichnet wurde. Was manch anderer in einem ganzen Roman mühevoll zu einem Geflecht von Ereignissen verwebt, explodiert in ,Auf dass uns vergeben werde‘ sofort zu Beginn. Keine Umschweife. Kein Mitgefühl.

Die Leute reden immer von der Kernfamilie als der vollkommenen Einheit, aber niemand erwähnt die Kernschmelze.

Eben jene nimmt ihren fatalen Anfang, als George Silver, ganz und gar Medienmann und schon von Kindesbeinen an jähzornig, in einen Unfall verwickelt wird, bei dem zwei Menschen sterben. Das wirft ihn dermaßen aus dem Gleichgewicht, dass er auf der psychiatrischen Station eines Krankenhauses behandelt werden muss – während sein Bruder Harry mit seiner Frau Jane schläft. Auf rätselhafte Weise gelingt es ihm, aus dem Krankenhaus auszubrechen und findet zuhause Frau und Bruder im selben Bett vor. Vollkommen außer sich greift er zur Nachttischlampe und schlägt sie seiner Frau mit voller Wucht auf den Schädel. Die fällt ins Koma und stirbt wenig später, George selbst wird inhaftiert.

Harold Silver, seinem unscheinbaren Bruder, der als großer Verehrer Nixons bereits seit Jahren an einem Buch über den ehemaligen Präsidenten arbeitet, wird nun alle Verantwortung für Georges Leben – und was davon übrig ist – übertragen. Fortan muss er sich um die Kinder Nate und Ashley kümmern, die gewissermaßen von einem Moment zum anderen ihre Mutter und ihren Vater verloren haben. Da sind der Hund Tessie und die Katze Muffin. Da sind das Haus zu verwalten und allerlei finanzielle Angelegenheiten zu klären. Auch für Harry ändert sich sein Leben, Schlag auf Schlag – im wahrsten Sinne des Wortes.

Ich spüre, wie tief meine Familie mich enttäuscht hat und wie ich mich am Ende in mich selbst zurückgezogen habe, wie ich ein Nichts wurde, denn das war weniger riskant,als angesichts derartiger Verachtung irgendetwas sein zu wollen.

Alles, was nun schiefgehen kann, geht schief. Harrys Frau Claire trennt sich von ihm, er erleidet einen leichten Schlaganfall, er verliert seine Anstellung an der Universität, sein Bruder schlägt ihn bei einem Besuch im psychiatrischen Krankenhaus zusammen. Es scheint fast als stürme alles Unglück eines Lebens durch Harry Silver, um ihn, angesichts all seiner “neugewonnenen” Verpflichtungen auf Schlimmeres vorzubereiten. A.M. Homes’ Tonfall, oft zynisch und rücksichtslos, tut anfangs sein Übriges – der Leser schwankt zwischen Mitgefühl und Abscheu vor soviel Schlechtigkeit und der schonungslosen Art ihrer Offenlegung. Nichts wird hier beschönigt, nichts schöngeschrieben, es ist nunmal wie es ist. Doch Harry Silver trotzt den Umständen und errichtet auf den Trümmern etwas Neues. Etwas Besseres, denn im Laufe der Zeit wird deutlich, wie wenig Aufmerksamkeit sein Bruder der Familie gewidmet hat.

Tatsächlich mag es Anlaufzeit brauchen, diese Art der Darstellung zu verkraften. Mit fortschreitender Lektüre aber, mit Harry Silvers Entwicklung zu einem engagierten und treusorgenden Familienvater im Kampf mit seinen eigenen Dämonen, verändert sich auch der Tonfall. Immer öfter blitzen Sonnenstrahlen durch die dichte Wolkendecke, herzerwärmende und lebensnahe Szenen vermitteln Authentizität, Dabeisein, Involviertsein in die Entwicklung dieser kleinen Familie. Einem Mikrokosmos, der sich im Laufe der Zeit überraschend um einige Mitglieder erweitert. Um Ricardo zum Beispiel, dessen Eltern bei dem von George verursachten Autounfall starben.

A.M. Homes hat, erscheint es auf den ersten Blick auch ganz anders, einen großen Familienroman geschrieben, überraschend zeitgemäß und doch voller Hoffnung. Hier trägt jemand nicht nur eine Familie zu Grabe – wie in guter alter literarischer Tradition üblich – hier folgt auch etwas auf den Untergang. Manchmal skurill, aber stets mitreißend und echt lässt sie diesen zerstörenden Wirbelsturm über die Familie Silver hinwegfegen und sie in einem Jahr, auf knapp 650 Seiten, eine Wandlung erfahren, die ihnen zu Beginn niemand zugetraut hätte. Homes ist eine begnadete Erzählerin, die mit ihrem intensiven Stil und ihrer feinen Beobachtungsgabe zu begeistern weiß. Und am Ende sind wir alle ein bisschen anders, sind wir alle nicht mehr dieselben. Familie Silver nicht. Der Leser auch nicht.

A.M. Homes: Auf dass uns vergeben werde, Kiepenheuer & Witsch Verlag, aus dem Amerikanischen von Ingo Herzke, 659 Seiten, 9783462046106, 22,99 €

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