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Ulrike Draesner – Sieben Sprünge vom Rand der Welt

Ulrike Draesner ist eine deutsche Autorin. In München aufgewachsen studierte sie Rechtswissenschaften, Anglistik, Germanistik und Philosophie an verschiedenen Universitäten im In – und Ausland. Seit 1994 lebt sie als freie Schriftstellerin in Berlin und veröffentlicht außer Prosatexten und Essays auch Lyrik. Sie wirkt gemeinsam mit bildenden Künstlern auch an intermedialen Projekten mit. ,Sieben Sprünge vom Rand der Welt‘, ein Roman über Vertreibung und das Schwelen von Erinnerung unter der Oberfläche, erscheint im Luchterhand Verlag.

Vater, glücklicher Raum, schlurft durchs Institut. Hose, Lederjacke, Seminar. Seine alte Gartenjacke. Wie er aussieht, ist ihm egal. Der Rundrücken, die Hosenträger, die Karl-Valentin-Beine. Verrückt war er schon immer, auf seine Weise: exakt, kühl, kalkuliert.

Eustachius Grolman, Verhaltensforscher und zweiundachtzigdreiviertel Jahre, ist ein renommierter Wissenschaftler. Seit Jahrzehnten forscht er mit Affen, vorzugsweise Schimpansen und Bonobos. Wo andere versuchen, den Menschen im Affen zu entdecken, versucht er, den Affen im Menschen zu entlarven. Seine Lebensgeschichte gleicht der vieler anderer Kriegskinder. Der Vater kämpft an der Front und Eustachius muss mit seiner Mutter und dem älteren, behinderten Bruder Emil im Winter 1945 aus Breslau fliehen. Bei Minusgraden durch unebenes Gelände, hungernd, verängstigt. Gesprochen wird in der Familie über diese Erfahrungen wenig, trotzdem erwächst aus dem Samen dieser Kriegstraumata Stück für Stück eine neue Generation heran, die, trotzdem der Krieg längst Vergangenheit ist, noch immer unter seinen Ausläufern zu leiden hat.

Hatte ich Kummer, sagte er: “Wie gut es dir geht.”
Er sagte: “Was ich erlebt habe, wünsch ich dir nicht.”
Ich fühlte: Er wünschte es mir. Dann wünschte er es mir wieder weg. Sonst hätte ich gehabt, was er hatte: Das Große-Schlimme mitten im Leben. Dann wäre ich so stark gewesen wie er. “Stärke”, sagte mein Vater, “Fühllosigkeit, Erfolg” Darum gehe es. Allemal im Beruf.

Diese Stimme gehört Simone Grolman, 52, ebenfalls renommierte Verhaltensforscherin, Tochter von Eustachius, die ihren Vater und dessen Biographie zu begreifen versucht. Eustachius hat sich aus Enttäuschung und Fassungslosigkeit darüber, wozu Menschen fähig sind, den Affen zugewandt. Um sie kreist sein Leben, sie bilden seinen Lebensmittelpunkt und lassen den alten Mann Zehntausende für einen urwaldgetreuen Nachbau des Regenwaldes gleich neben seinem Haus ausgeben. Für Eustachius, der mit seinen Affen sogar in eine Fernsehshow eingeladen wird, nachdem seine widerrechtliche Haltung der Tiere zur Anzeige gebracht worden ist, – sind sie, ohne Zweifel, die besseren Menschen.

wörter

Wie wirken sich (Kriegs)traumatisierungen auf die Folgegenerationen aus? Wie werden Erinnerungen und Ängste von Generation zu Generation weitergetragen, ohne dass es dazu noch eine Entsprechung in der Realität gäbe? Ulrike Draesner spürt mithilfe der Stimmen von vier Generationen (und sieben ,Hauptpersonen’) dieser Frage nach. Sowohl Eustachius als auch dessen Eltern, sowohl Simone Grolmann als auch der konsultierte Psychologe, dessen Vertreibungsgeschichte zwar eine andere als die der Grolmans, in ihren Auswirkungen aber doch eine ähnliche ist, kommen zu Wort. Auch die Kinder der Kinder, für die der Krieg allenfalls noch eine schwarzweiß-körnige Dokumentation im Fernsehen ist. Sie alle sind auf die ein oder andere Weise mit diesen ,Urkatastrophen’ des 20-Jahrhunderts verbunden, lange über ihr Geschehen hinaus.

Hitlers Kinder, die 1945, anders als die Erwachsenen, die einzige Welt verloren, die sie kannten, seien nicht erzogen, sondern im wörtlichen Sinne verzogen gewesen: an ihrer Psyche habe man gezogen. Ihnen den Rahmen verzogen, die Menschlichkeit.

Empathisch und behutsam begibt sich Draesner auf Spurensuche und legt dabei viele ,Bakterienherde’ frei, auf deren Basis das Erlebte sich virusartig in einer Familie ausbreitet. Sei es nun ein vorgelebtes und anerzogenes Ideal von Stärke, das einen Menschen zwar widerstandsfähig, aber bedauerlich hart und kühl macht oder die Übertragung von Ängsten, die im Krieg, angesichts von Tod und Verderben entstanden sind – jeder wird in seiner Familie etwas davon finden. Und wenn es nur das Schweigen ist. Wenn es nur bedeutet, dass Opa immer den Teller leer isst, weil er weiß, was Hunger bedeutet. Dass er nichts wegwerfen kann, weil er weiß, wie es sich anfühlt, alles zu verlieren.

seit November
fielen Flüchtlinge von den Hügeln in die Stadt als wären die
Hügel Bäume und alle Ostpreußen
Obst

Schilderungen aus der Gegenwart wechseln sich ab mit den Erinnerungen derer, die vetrieben wurden, die “verzogen” sind. Im Falle von Eustachius’ Vater Hannes sind es sogar zwei Kriege, die er schultert, die aus ihm einen völlig anderen Menschen machen, sich selbst fremd in einer fremden Welt. Trotzdem man an der ein oder anderen Stelle dieses Romans hätte kürzen oder den Blick mehr auf das Aufwachsen der Kinder nach Ende des Krieges hätte richten können, trotz einiger seltsamer Ideen wie Eustachius’ Apparatur, mit der er seine eigene Hirntätigkeit überwacht, bleibt dieser Roman eine intensive Erfahrung, die unweigerlich eigene Erinnerungen herausbeschwört. Mit ihrer feinen und poetischen Sprache kann Ulrike Draesner Stimmungsnunancen einfangen und Bilder entstehen lassen,die nachwirken. Ihr Erzählen ist ein Appell an die eigene Geschichte.

Der Ort zerlegt mich, bis ich nicht mehr weiß, wie ich meine erste und zweite Lebenshälfte aneinanderhängen soll, wie mir meine schiefe Geschichte erzählen.

Auf www.der-siebte-sprung.de gibt Ulrike Draesner darüber hinaus Einblick in ihre Recherchearbeit, ihre Gedanken zum Thema und die Motivation, die sie getrieben hat, ihre persönliche Familiengeschichte in fiktionalisierter Form aufzuarbeiten. Für diese multimediale Begleitlektüre zeichnet sich die Agentur imaginary friends verantwortlich, die im Bereich des medienübergreifenden Storytellings mit Verlagen und Autoren, aber auch anderen Kultureinrichtungen wie Museen neue Wege zu beschreiten versuchen.

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