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Gail Jones – Ein Samstag in Sydney

Gail Jones ist eine australische Autorin. Sie lehrt als Professorin für Kreatives Schreiben an der University of Western Sydney. Bisher veröffentlichte sie zwei Erzählbände und fünf Romane. Ihr zweiter Roman ,Sechzig Lichter‘ war 2004 für den Booker Prize nominiert. ,Ein Samstag in Sydney‘ schrieb sie als Stadtschreiber-Stipendiatin in Shanghai. Es erschien im August letzten Jahres bei der Edition Nautilus, in der Übersetzung von Conny Lösch.

Sie ging los. Mit ihrem Sonnenhut aus Baumwolle, ihrem kleinen Rucksack und diesem unerwarteten Pochen in der Brust trat Ellie hinaus in den lieben langen Tagin Sydney. Sonnenschein wirbelte um sie herum. Der Hafen funkelte fast. Sie hob ihr Gesicht zum Himmel und lächelte in sich hinein. Es kam ihr vor als würde sie – ja, doch, ja – Licht atmen.

Nicht nur Ellie tritt in diesem lichtdurchfluteten Morgen auf die Straßen einer langsam erwachenden Metropole. Auch James kommt an, verbittert und übernächtigt und mit Schuldgefühlen, die er in Alkohol ertränkt. Ellie und er kannten sich einst sehr gut, sie waren junge Verliebte, Schulkameraden, Freunde. Nun wollen sie sich wiedersehen, ihre Erinnerungen aneinander und das Gewesene auffrischen. Mit seinem Heimatort verbindet James einzig die süßen Erinnerungen an Ellie. Schon früh verlässt er seine Mutter für ein Stipendium in der Stadt, die zerbricht ihrerseits daran, ihren Sohn entbehren zu müssen.

Auch Pei Xing, eine chinesische Einwanderin, macht sich auf den Weg. Vorbei an Eisverkäufer Aristos, der ihr stets eine Kugel Eis spendiert und zu einer alten Bekannten, die sie wöchentlich im Krankenhaus besucht. Ihr Weg führt sie vorbei an der Oper, deren weiße “Zähne” wie Flügel gefalteter Origami-Kraniche in den Himmel ragen, an Cafés und dem Circular Quay. Dem großen Hafenbecken, das verschiedene Teile Sydneys miteinander verbindet. Auf die Fähre.

Ich habe viele Leben gelebt. Das hatte etwas Tröstliches, nicht eine zu sein, sondern viele, nicht nur eine Sprache zu sprechen, sondern mehrere, nicht eine für sich alleinstehende Vergangenheit zu haben, sondern gleich einen ganzen Strang, multiple Vergangenheiten.

Catherine kommt aus Irland nach Sydney, um als Journalistin zu arbeiten. Aus einem streng katholischen Elternhaus stammend, entsinnt sie sich noch gut politischer Unruhen in ihren Kindheitstagen. In sich trägt sie die Erinnerung an ihren früh verstorbenen Vater, an die Trauer ihrer Mutter und deren überzeugten Glauben, der allen Widrigkeiten des Lebens trotzte. Irgendwann sollte es einmal in die Welt hinausgehen, hatte ihr Bruder Brendan ihr immer prophezeit, nach China vielleicht. Catherines Bruder und Seelenverwandter verunglückt tödlich bei einem Autounfall.

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Alle Protagonisten dieser brilliant komponierten Prosa treibt irgendetwas an diesem Samstag auf die Straßen Sydneys. Alle lassen sie Erinnerungen revue passieren, gute wie schlechte Tage wiederaufleben, Tote, die ihnen viel bedeuteten, wiederauferstehen. Alle erzählen sie von ihrer Kindheit, Ellie und James in einem englischen Dorf, Catherine im von Tumulten geschüttelten Irland, Pei Xing im China Maos und der Kulturrevolution.

Maos Ballongesicht wurde ihr vertrauter als das ihres eigenen Vaters, das Muttermal am Kinn, das geistesabwesende Starren, der auf den Brustbildern stets so exakt unter dem Muttermal platzierte Knopf. Sein Kopf schwamm wie ein Luftschiff durch ihr Leben, jenseits der Gravitation, schwerelos in einem Winkel ihres Blickfelds, mit der grellen entsetzlichen Herrlichkeit eines Gottes.

Gail Jones erzählt auf unnachahmliche und sprachlich präzise Weise vier Lebensgeschichten in einer einzigen. Voller Poesie und Bildhaftigkeit lässt sie nicht nur das heutige Sydney vor den Augen des Lesers Gestalt annehmen, sondern auch die Vergangenheiten der vier Protagonisten. Sie könnten inhaltlich oft kaum unterschiedlicher sein, doch eint sie alle das Nichtvergessenkönnen, das Rekapitulieren ferner Ereignisse, deren Arm noch immer in die Gegenwart reicht. Hier und da kreuzen sich die Wege der Protagonisten, mal flüchtig, mal ganz gewollt. Vergangenheit und Gegenwart überlagern sich in einem Potpourri aus Licht. Dieser Roman ist nicht nur atemberaubend schön, sprachlich wie inhaltlich, er steckt voller Bilder, Gerüche und Gedanken, die man festhalten, an die man sich seinerseits erinnern möchte, wenn dieser eine Samstag in Sydney vorbei ist. Eine ganz dringende Leseempfehlung!

Catherine hatte eine Weile in dem Halbkreis von Leuten gestanden und dem Didgeridoo-Spieler zugesehen. Er war ein Aborigine, anscheinend zeremoniell weiß bemalt. Wie die besten Straßenmusiker schenkte er der Menge keinerlei Aufmerksamkeit, sondern trat in seine Musik, als wäre sie ein Raum,in dem er sich ausruhen konnte.

Hier gibts für alle Interessierten noch ein Interview mit Gail Jones.

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