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Emmanuel Carrère – Alles ist wahr

Emmanuel Carrère ist ein französischer Schriftsteller, Drehbuchautor und Filmproduzent. Er hat bereits einige Bücher veröffentlicht – unter anderem über Werner Herzog und Philipp K.Dick – und war 2010 Jurymitglied bei den Fimfestspielen in Cannes. Seine Geschichte La Classe de neige (“Schneetreiben”), die einen väterlichen Mörder zum Protagonisten macht, wurde 1998 verfilmt. Für Limonow wurde Carrère u.a. mit dem Prix Renaudot und dem Prix de la langue francaise ausgezeichnet. ,Alles ist wahr‘ erscheint nun, wie auch sein Vorgänger, im Matthes & Seitz Verlag.

Emmanuel Carrère ist wahrscheinlich, der Vergleich ist gar nicht so wagemutig, ein französischer Truman Capote. Als der seinen Tatsachenroman ,Kaltblütig‘ über eine ermordete Familie auf einer Farm in Kansas schrieb, war die Gattung des Tatsachenromans noch etwas Brandneues und Experimentelles. Niemand hatte zuvor auf diese Weise versucht, Wirklichkeit und prosaisches Schreiben miteinander zu verbinden, tatsächliche Geschehnisse nicht ausschließlich nüchtern und faktenreich aufbereitet zu präsentieren, sondern literarisch anspruchsvoll. Capote gelang eine Sensation. Sensationell ist der Tatsachenroman als solcher heute freilich nicht mehr, aber es gibt Autoren, die ihn glänzend beherrschen, diesen Balanceakt zwischen Fiktionalisierung und Realität.

,Am nächsten Tag beim Frühstück hat sie gelacht, lauthals gelacht, und zu mir gesagt: Ich finde dich komisch. Du bist der einzige Typ, den ich kenne, der imstande ist zu glauben, die Freundschaft von zwei lahmen, krebskranken Richtern, die im Amtsgericht von Vienne Überschuldungsakten durchackern, sei ein dankbares Thema. Sie gehen nicht mal miteinander ins Bett und zum Schluss stirbt sie. Habe ich richtig zusammengefasst? Ist das die Geschichte? Ich habe genickt: ,Ja, genau.’

Carrère schrieb schon über politische Wirrköpfe in trauriger Gestalt (“Limonow”) und einen Mann, der seine Familie auslöschte. (“Amok”) Carrère sucht sie, die schwierigen und anstößigen, die unbequemen und abseitigen Themen. Das gilt auch für ,Alles ist wahr‘, in dem er den Verlust eines geliebten Menschen aus zweierlei Perspektive beleuchtet. Innerhalb kürzester Zeit wurde Carrère selbst Zeuge zweier Ereignisse, die ihn, so schreibt er, im Leben am meisten ängstigen. Der Verlust des eigenen Kindes und der Verlust des Partners. Er hält sich 2004 auf Sri Lanka auf, als der Tsunami die Insel in einer Welle der Zerstörung gebietsweise nahezu dem Erdboden gleichmacht. Und er erlebt, wie die Schwester seiner Frau innert weniger Monate an Krebs stirbt.

Seit sechs Monaten verbringe ich jeden Tag freiwillig vor dem Computer, um über das zu schreiben, was mir am meisten in der Welt Angst macht: der Tod eines Kindes für seine Eltern und der Tod einer jungen Frau für ihre Kinder und ihren Mann. Das Leben hat mich Schlag auf Schlag zum Zeugen dieser beider Unglücke gemacht und mich damit beauftragt, zumindest habe ich es so verstanden, davon zu erzählen. Es hat mir selbst beides erspart, und ich bete darum, dass es so bleibt.

Beginnend mit dem Aufenthalt auf Sri Lanka und der Katastrophe führt Emmanuel Carrère den Leser mit seinem Blick durch die Ereignisse. Er und seine Frau lernen ein junges Ehepaar kennen, das seine kleine Tochter verloren hat und nun, einquartiert im selben Hotel, diesen unbegreiflichen Umstand zu fassen versucht. Präzise, zurückhaltend, aber niemals außen vor, beschreibt Carrère Komplikationen, Zusammenkünfte in der Hotellobby und den Umgang mit dieser Naturgewalt, die unsäglich viele Menschen an diesem Tag sinnlos in den Tod gerissen hat. Sie alle sitzen zunächst im Hotel fest, dessen exponierte Lage den meisten von ihnen das Leben rettete – und warten, fassungslos, auf Informationen.

Den größten Teil allerdings nimmt die Geschichte um seine Schwägerin und deren Freund Étienne ein. Beide früh an Krebs erkrankt und vom Leben mehr als stiefmütterlich behandelt, treffen das erste Mal am Gericht in Vienne zusammen, wo sie sich um Verbraucherrecht bemühen und betrügerische Kreditinstitute, die viele Menschen mit horrend hohen Zinsen in den Ruin treiben, juristisch zu packen versuchen. Juliette und Étienne haben ein besonderes Verhältnis, voller Offenheit und Intimität, insbesondere in Bezug auf ihre Behinderungen. Étienne erkrankte früh an Krebs und verlor ein Bein, Juliette litt im Jugendalter unter dem Hodgkin-Lymphom, das durch Bestrahlung zwar besiegt werden konnte, allerdings Beschwerden nach sich zog, die sie zeit ihres Lebens auf Krücken anwiesen, weil ihre Beine sie nicht mehr trugen.

Zwischen Menschen mit einem rissigen Kern und anderen ist es wie zwischen Armen und Reichen, wie beim Klassenkampf: Man weiß, dass es Arme gibt, die der Armut entkommen, aber die meisten entkommen ihr nicht, und einem Melancholiker zu sagen, Glück sei eine Frage der Wahl, ist wie einem Verhungernden zu sagen, er solle doch einfach einen Bissen Brioche essen.

Juliettes Krebs kehrt zurück und Carrère beschließt ab dem Zeitpunkt darüber zu schreiben, als Étienne nach Juliettes Tod von der ersten Nacht berichtet, die auf die niedrschmetternde Diagnose folgt. Eine Nacht, die den Betroffenen verändert, in der er mit sich und der Krankheit ringt. Auf einfühlsame und hochsensible Weise zeichnet Emmanuel Carrère den Weg Juliettes und Étiennes nach, führt Interviews, absolviert ein Praktikum bei Gericht und lässt sich von den Menschen einfach erzählen, was auch immer sie zu erzählen haben. Daraus wird, sogar, als es um Verbraucherrecht geht, eine zutiefst menschliche Geschichte, die man nicht so leicht verdaut. ,Alles ist wahr‘ meint, was es sagt. Alles, was wir erleben, alles Leid und jede Geschichte, ist in ihren Facetten wahr, so, wie wir sie erleben. Und sie ist es wert, erzählt zu werden. Kaum jemand kann das heutzutage besser als Emmanuel Carrère. Authentisch, empathisch und sich doch immer seiner eigenen Perspektive bewusst, schreibt er mit einem tiefen Respekt für seine Protagonisten, der dem Leser seinerseits mindestens ein Lüpfen des sprichwörtlichen Hutes abnötigt. Hart, schwer verdaulich, tieftraurig, menschlich, liebevoll – und vorallendingen – wahr(haftig).

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