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Ernst Haffner – Blutsbrüder

Über Ernst Haffner ist nicht viel bekannt. Vermutlich war er als Journalist und Sozialpädagoge tätig und lebte zwischen 1925 und 1933 in Berlin. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten verliert sich seine Spur, Ende der 30er wird er gemeinsam mit seinem Lektor zur Reichsschrifttumkammer zitiert. Danach taucht der Name Ernst Haffner nirgendwo mehr auf. Sein Buch, erstmals 1932 unter dem Titel ‘Jugend auf der Landstraße Berlin’ veröffentlicht, geriet in Vergessenheit. Peter Graf, Verleger des Schweizer Verlages Walde+Graf, hat beschlossen, dass dieses Zeitzeugnis zu lange unentdeckt in Schubladen und auf Dachböden geschlummert hat und veröffentlichte es neu. ,Dennoch ist dieser Roman, wenn man ihn heute liest, ein sehr zeitgemäßes und zugleich menschliches Plädoyer, den Blick auf das Schicksal des Einzelnen zu werfen, statt sich jener allgemeinen Angst zu ergeben, die überall spürbar ist und beinahe zwangsläufig die Herzen verengt. Das macht seine Lektüre für mich so wichtig.’, schreibt Peter Graf im Vorwort zum Roman, der bei Metrolit erscheint.

Anfang der 30er Jahre auf den Straßen Berlins – viele Jugendliche sind aus Fürsorgeheimen, in denen häufig katastrophale Bedingungen herrschten, auf die Straßen der Großstadt geflohen. Sie schlagen sich mit Gelegenheitsdiebstählen oder Prostitution durch, irren nicht selten mit knurrenden Mägen durch die nächtlichen Straßen auf der Suche nach einer Unterkunft für die Nacht. Im Fokus von Ernst Haffners Roman steht die Clique der Blutsbrüder. Alle um die zwanzig, obdachlos und mittellos versuchen, in der Großstadt zu existieren. Genauso wie alle anderen Bettler, Gauner, Nutten und Zuhälter, deren Leben von gutbürgerlicher Ehrenhaftigkeit weit entfernt ist.

Es ist Tag geworden. Die wenigen, die noch nicht zu dem Hungerheer der sechs Millionen gehören, eilen auf ihre Brotstelle. Nur nicht zu spät kommen. Der Chef könnte schlechte Laune haben. Die Warenhäuser, die Läden öffnen ihre bis zum Platzen mit Ware angefüllten Magazine. Die Verkäufer ziehen die Rolläden vor den Schaufenstern hoch, wo alles so verführerisch aufgebaut ist, daß dem Beschauer das Wasser im Munde zusammenläuft. Aber das Wasser im Munde sättigt nicht, das Bescheuen sättigt nicht, der Geruch der Lebensmittel der durch die offene Tür auf die Straße dringt, sättigt nicht! Alles macht den Hungrigen nur noch wütender, toller vor Verlangen, sich den Bauch vollzustopfen mit dem Überfluß der anderen!

Neben dem Cliquenleben wird das Schicksal zweier Jungen, Ludwig und Willi, von Haffner näher beleuchtet. Beide brechen zu unterschiedlichen Zeitpunkten aus dem Fürsorgeheim aus. Sie halten es in der dortigen Unterdrückung und Enge nicht mehr aus und suchen in Berlin einen Halt, eine ungeahnte Freiheit. Während Willi zunächst in Köln landet und von dort unter (!) einem Zug versteckt nach Berlin reist, wird Ludwig von einem Kleinkriminellen über’s Ohr gehauen, der ihm einen gestohlenen Gepäckschein reicht, mit dem Ludwig auffliegt und verhaftet wird. Beide finden sie auf verschlungenen Pfaden wieder zusammen und zur Clique der Blutsbrüder, der Ludwig schon vor seinem Gefängnisaufenthalt angehörte.

Litt die Clique zuvor noch unter Hunger und Kälte, hat Fred, ein Mitglied, das sich langsam zum Führer der Truppe aufschwingt, eine andere Strategie etabliert. Den Taschendiebstahl in großem Stil. An guten Tagen kommen innerhalb weniger Stunden über hundert Mark zusammen, die in der Gruppe aufgeteilt werden. Nur Willi und Ludwig weigern sich, an diesen Raubzügen teilzunehmen. Sie wollen nicht die Arbeiter beklauen, die, die ohnehin wenig haben,genau wie sie. Sie beginnen, mit ihrem letzten Ersparten alte Schuhe zu kaufen und wieder instandzusetzen. Die polierten und reparierten Schuhe verkaufen sie weiter und verdienen sich so einen kleinen, aber ehrlichen Lebensunterhalt. Jedoch immer in der Angst, von der Polizei hochgenommen zu werden – denn was den meisten, nicht volljährigen Jungen auf Berlins Asphalt fehlt, sind Papiere, die für die Aufnahme einer ehrlichen und rechtschaffenen Arbeit unerlässlich sind.

Bleibt ein anderer Weg? Arbeit, ehrliche Arbeit? Selbst wenn so ein Wunder passieren würde und jemand käme: Wollen Sie bei mir arbeiten? Da wäre es im gleichen Augenblick doch wieder aus! Papiere! Die amtliche Bescheinigung, daß der und der, geboren dann und dann, frei herumlaufen darf und nicht etwa in die Fürsorge gehört …, diese Bescheinigung bricht doch jedem das Genick, weil sie nicht vorhanden ist! Weil sie ja gar nicht frei herumlaufen dürfen! Die Fürsorgezöglinge, die eingesperrt werden können, auch wenn sie noch gar nichts verbrochen haben!

Ernst Haffner entwirft in seinem Roman ein erschütterndes Bild der Aussichtslosigkeit, eine authentische Milieustudie die exemplarisch am Beispiel der Blutsbrüder das Leben junger Fürsorgezöglinge in den frühen 30er Jahren zeigt. Eindrücklich beschreibt er Hunger, Not und Elend, aber auch Zusammenhalt und Freundschaft innerhalb der eingeschworenen Gemeinschaft. Die Jungen kennen keine Liebe, keine Familie, sie sind es gewohnt, sich – manchmal wortwörtlich – durchs Leben zu schlagen, auf sich selbst aufzupassen. Ludwig und Willi werden, ihrem ehrlichen Gewerbe nachgehend, tatsächlich von einem alten Bekannten verpfiffen … und doch geben sie sich nicht auf. Im Gegensatz zu tausend anderen, die dem Strudel aus Gewalt und Kriminalität gar nicht mehr zu entkommen versuchen.

Berlin, dieses endlose,unbarmherzige Berlin kann man nicht allein bewältigen,um ihm das tägliche Minimum abzuringen.

Ein eindrucksvoller, dichter und mitreißender Roman, nicht nur für Berlinkundige!

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