Sachbuch
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Christof Kessler – Wahn

Christof Kessler ist ein deutscher Neurologe. Er arbeitet hauptsächlich in der Schlaganfallforschung und ist seit 1994 Professor für Neurologie und Direktor der Klinik und Poliklinik für Neurologie an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität in Greifswald.  ,Wahn‘ ist seine erste Veröffentlichung literarischer Art, erschienen im Eichborn Verlag.

Wahn, Irrsinn und psychische Abgründe faszinieren viele Menschen seither. Einerseits aufgrund eines irgendwie wohligen Schauers der Erleichterung, nicht selbst von solchen Krankheiten betroffen zu sein, andererseits aufgrund einer durch und durch menschlichen Faszination für das Böse, das Hässliche und das Absonderliche. Diese Faszination befriedigt meistens schon der Sonntagabendkrimi, den wohligen Schauer der Erleichterung beschafft man sich andernorts. Zum Beispiel bei Menschen, die täglich mit Patienten arbeiten, denen psychische Störungen diagnostiziert wurden. Und die jeweiligen Ärzte geben bereitwillig Auskunft. Francois Lelord tat es in ,Das Geheimnis der Cellistin‘, Oliver Sacks tut es eigentlich seit Jahren in zahlreichen Publikationen und nun auch – Christof Kessler. Dass die drei Herren Ärzte sind, bleibt allerdings auch das am ehesten verbindende Element zwischen ihnen.

In zwölf Fallgeschichten beleuchtet Christof Kessler in angenehmen Plauderton die Auswirkungen verschiedener Hirnkrankheiten. Und schon nach einigen Kapiteln dämmert einem: In den meisten Fällen hat das Geschilderte wenig Wahnhaftes. Wir erfahren von einer Frau mit angeborener Gesichtsblindheit, von einem Mann, der aufgrund seiner massiven Nikotinsucht einen Herzinfarkt sowie einen Schlaganfall erleidet (und das Rauchen schlussendlich aufgrund einer Schädigung einer bestimmten Hirnregion plötzlich sein lässt). Wir lesen von einem Mann, der kurzzeitig sein Gedächtnis verliert und sich mit diesem Verlust nicht arrangieren kann und wir begegnen einer Frau mit Multipler Sklerose. Zwar sind all diese Krankheiten neurologisch bedingte Störungen, die durch konkrete Schäden im Gehirn bedingt sind, wahnsinnig allerdings sind sie nicht.

Daran ist allerdings mitnichten Kessler schuld, viel mehr der reißerische Titel und die prätentiöse Covergestaltung. Die Neurologie beschäftigt sich nun einmal mit organischen Hirnkrankheiten, alles andere ist Aufgabengebiet der Psychiatrie. Aber um nicht gänzlich an den Erwartungen des Lesers vorbeizuschreiben, gibt uns Kessler zwei Beispiele, die auf den ersten Blick gut und gern auch in den Bereich der Psychiatrie gepasst hätten. So leidet Herr Sommerfeld eigentlich “nur” an Parkinson, jedoch führt seine, häufig von ihm eigenmächtig überdosierte, L-Dopa-Medikation zu psychosewürdigen Halluzinationen. Herr Sommerfeld glaubt, die Mafia wolle seinen Ort übernehmen, er überfällt eine Autowerkstatt, fesselt den Eigentümer. Parkinsonkranke leiden unter einem akuten Dopaminmangel, der neben einer ausdruckslosen Mimik eben auch zu den typischen motorischen Einschränkungen führt, für die die Parkinson-Erkrankung bekannt ist. Deshalb wird L-Dopa verabreicht, um den Dopaminspiegel zu erhöhen. Überdosierungen führen aber, wie im Falle Herrn Sommerfeld, zu gefährlich übersteigertem Antrieb und Halluzinationen.

Das zweite Beispiel liefert Kessler mit Hans Michalek, der, veursacht durch einen gutartigen Hirntumor, eine vollkommene Persönlichkeitsänderung erfährt. Er leidet unter dem sogenannten ,Frontalhirnsyndrom’, unter der Zerstörung oder Beeinträchtigung einer ganz bestimmten Hirnregion, die sich erst im Laufe des biologisch-evolutionären Prozesses gebildet hat und unter anderem für sozial verträgliches und vernunftbegabtes Handeln zuständig ist. Hans Michalek zeigte sich zusehends streitsüchtig, rücksichtslos und sexuell enthemmt. Er begann, fremde und bekannte Frauen sexuell zu belästigen, war wie ausgewechselt. All das, weil der gutartige Tumor auf eben diese Hirnregion drückte und sie zurückdrängte. Nach Entfernung des Tumors war Herr Michalek wieder ganz der Alte. Kessler führt auch den, in der Neurologie wohl sehr bekannten, Fall des Phineas Gage an, der 1848 einen Unfall erlitt, bei dem sich eine Eisenstange durch seinen Kopf bohrte und die oben erwähnte Region völlig zerstörte. Aus einem besonnenen und freundlichen Zeitgenossen wurde ein impulsiver, streitlustiger und vollkommen unzuverlässiger Mensch. Das lässt uns anders über Moral und soziale Regeln im menschlichen Miteinander nachdenken, ohne Zweifel.

Zwar weiß Kessler seine Fälle spannend zu beschreiben, verliert aber mutmaßlich hin und wieder aus den Augen, ob er sich im Populärsachbuch oder doch lieber im belletristischen Gefilde aufhält. Passagen, die sachlich fundiert beschrieben werden, wechseln sich mit romanhaften Fragmenten ab, die innerhalb der beschriebenen Themen wie Fremdkörper wirken. Womöglich hat Kessler Angst, ein zu sachlicher Tonfall koste ihn Leser. Hinzu kommen abrupt endende Kapitel, vor denen man ratlos zurückbleibt. So beschreibt Kessler die Absicht eines Freundes, eine Bank zu überfallen, da er kürzlich erfahren hatte, dass er an einem bösartigen Hirntumor leidet. Er könne seiner Familie keinen Schuldenberg hinterlassen. Kessler redet ihm das aus, lässt das Kapitel aber folgendermaßen enden:

Hubertus starb zwei Monate nach seinem Atelierfest im Kreise seiner Familie. Die Gangster, die seinerzeit den Supermarkt überfallen hatten, wurden nie gefasst. Einmal hieß es,dass in Berlin zwei Mitglieder einer rumänischen Bande unter dem Verdacht verhaftet worden seien, die Supermarkträuber zu sein, aber sie mussten aus Mangel an Beweisen wieder freigelassen werden.

Da ist er, dieser Schauer, dieses Quäntchen Ungewissheit, das einen nun glauben macht, der todkranke Hubertus könne doch irgendwie seine Finger im Spiel gehabt haben. Kessler mag auf neurologischem Gebiet ein hochqualifizierter Spezialist sein, sein literarischer Versuch wirkt unausgegoren und die Gestaltung zieht eine falsche Leserschaft an. Wer grundsätzliches Interesse an neurologischen Erkrankungen mitbringt, wird zwar dennoch das ein oder andere Interessante aus Kesslers Buch entnehmen können, insgesamt haben andere seines Fachs das aber schon wesentlich besser gemacht.

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