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Raquel J. Palacio – Wunder

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Raquel J. Palacio (eigentlich Raquel Jaramillo) ist eine amerikanische Schriftstellerin. Sie lebt in New York und verbrachte als Art Director lange sehr viel Zeit damit, die Buchcover anderer Autoren zu gestalten. Sie arbeitete außerdem als Illustratorin und Fotografin. Wunder ist ihr Debüt und erntete international großen Erfolg. An einer Verfilmung des Romans wird bereits gearbeitet, 2013 erhielt es den Luchs des Monats (Mai). André Mumot hat diesen anrührenden Roman für den Hanser Verlag ins Deutsche übersetzt.

Die Literatur hat derzeit etwas übrig für Schicksalsgebeutelte und Außenseiter. Nach John Greens Das Schicksal ist ein mieser Verräter, das sich ja bekanntermaßen mit zwei todkranken Jugendlichen beschäftigte, geht es nun um August Pullman, der unter dem Treacher-Collins-Syndrom und infolgedessen unter schrecklichen Deformationen im Gesicht leidet.

machen wir uns nichts vor, fährt sie fort, das universum ist nicht nett gewesen zu auggie pullmann.

In dieser so knappen wie nüchternen Feststellung ist bereits das Wesentliche dessen enthalten, was uns den Protagonisten der Geschichte sofort ins Herz schließen lässt. August “Auggie” Pullman hat in seinen jungen Jahren schon mehr Operationen über sich ergehen lassen müssen als manch Erwachsener in einem ganzen Leben. Trotzdem ist sein Gesicht entstellt, eine höchst seltene Kombination von Gen-Defekten hat, wie seine Schwester Via es ausdrückt, ‘aus seinem Gesicht ein Schlachtfeld gemacht‘. Auggie ist es gewöhnt, dass die Menschen ihn anstarren, sich scheuen, ihn zu berühren als sei er ansteckend oder gar erschrocken vor ihm flüchten als sei er gerade einem schlechten Horrorfilm entsprungen.

Für mich ist Halloween der beste Feiertag der Welt. Er schlägt sogar Weihnachten. Ich kann mir ein Kostüm anziehen. Ich kann eine Maske tragen. Ich kann wie jedes andere Kind mit einer Maske rumlaufen und niemand findet, dass ich komisch aussehe. Niemand schaut zweimal hin. Niemandem falle ich auf. Niemand kennt mich.
Ich wünschte, jeder Tag wäre Halloween. Wir könnten alle immerzu Masken tragen. Dann könnten wir uns in Ruhe kennenlernen, bevor wir zu sehen kriegen, wie wir unter den Masken aussehen.

Lange wurde Auggie zuhause von seiner Mutter unterrichtet, um ihm das Zusammentreffen mit anderen Kindern – und damit deren Reaktionen – zu ersparen. Doch Augusts Mutter stößt nach Jahren an ihre Kompetenzgrenze, insbesondere im Bruchrechnen, sodass sie Auggie überredet, in die Schule zu gehen. Er hat noch nie eine Schule besucht und was ihn dort erwartet, wird sein Leben verändern, im positiven wie auch im negativen Sinne. Kinder können grausam sein. Schon wenn man völlig unauffällig und normal aussieht, ist das gewissermaßen axiomatisch für jeden, der jemals eine Schule besucht hat. Als Auggie ein Gespräch belauscht, in dem ein Junge, den er eigentlich für seinen Freund hielt, behauptet, er würde sich umbringen, wenn er so aussähe wie er, beschließt er, nie mehr in die Schule zu gehen.

Augusts Geschichte wird aus mehreren Perspektiven erzählt. Selbstverständlich kommt er selbst zu Wort, aber auch seine Schwester, deren Freund, eine Mitschülerin und eine Freundin schildern ihre Sicht der Dinge. Insbesondere die Perspektive Vias, Auggies Schwester, ist hier besonders berührend. Wie fühlt man sich, wenn der eigene Bruder seit seiner Geburt gezwungenermaßen immer Mittelpunkt des Familienlebens war? Wie geht man damit um, dass man immer und überall ‘die mit dem entstellten Bruder‘ ist? Schon früh muss Via selbstständig werden, Zentrum des familiären Universums ist und bleibt Auggie.

Ich mag es, wie sich die Wissenschaft anhört. Ich mag es, wie Worte, die man nicht versteht, Dinge erklären, die man nicht verstehen kann. Hinter Begriffen wie ‘Keimbahnmosaik’, ‘Chromosomen-Translokation’ oder ‘verzögerte Mutation’ verbergen sich zahllose Menschen. Zahllose Babys, die niemals zur Welt kommen werden, so wie meine.

Allen Widrigkeiten zum Trotz schafft es August aber dennoch, in die Schule zurückzukehren und Freundschaften zu schließen. Man schätzt seine selbstironische Art, seinen trockenen Humor. Und wenn man sich erstmal an sein Gesicht gewöhnt hat, ist es auch gar nicht mehr so schlimm. Obwohl Wunder auf einer tatsächlichen Begegnung Raquel J. Palacios mit einem erkrankten Mädchen beruht, ist es in letzter Konsequenz doch ein Wohlfühlroman. Das mag einerseits darin begründet liegen, dass es ein Jugendbuch und damit idealistischer und hoffnungsfroher ist als manch Erwachsenenroman, andererseits aber auch damit zusammenhängen, dass wir uns gern vorstellen, dass die Welt so funktioniert und sich alles zum Guten und Rechten wendet.

Als August im Rahmen der Zeugnisverleihung des fünften Jahrgangs auch noch eine besondere Auszeichnung erhält und das Publikum mit feuchten Augen Standing Ovations gibt, fühlt man sich schon fast unangenehm in einen dieser Filme versetzt, in denen am Ende eben alles gut wird und alle glücklich sind. Auggie hat Freunde, Auggie ist beliebt und wer schert sich schon um sein Gesicht? Raquel J. Palacio hat einen Roman darüber geschrieben, wie es sein sollte. Einen Roman über Mitmenschlichkeit, Freundlichkeit und Offenherzigkeit. Man muss Auggie gern haben und man muss die verzogenen Kinder hassen, die ihn eine Missgeburt nennen. Die Rollen sind klar verteilt. Und es tut gut, einen solchen Roman zu lesen.

‘Aber in einem anderen Buch von James M. Barrie namens Kleiner, weißer Vogel schreibt er’, Er begann, auf dem Pult ein schmales Buch durchzublättern, bis er die Seite fand, die er gesucht hatte. Dann setzte er seine Lesebrille wieder auf. ‘Sollen wir eine neue Lebensregel aufstellen .. wollen wir immer versuchen, ein bisschen freundlicher zu sein als unbedingt nötig?’

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