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Francesca Segal – Die Arglosen

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Francesca Segal ist eine englische Autorin und Journalistin. Sie ist die Tochter von Erich Segal, der 1970 mit Love Story seinen Durchbruch als Autor feierte. Sie veröffentlichte u.a. Artikel im Granta Magazine, dem Guardian und dem Daily Telegraph. Die Arglosen ist Segals Debüt. Es wurde bereits mit dem Costa First Novel Award, dem National Jewish Book Award und dem Sami Rohr Preis ausgezeichnet. Bei uns in Deutschland erscheint es im Kein & Aber Verlag in der Übersetzung von Verena Kilchling.

Als arglos wird gemeinhin der bezeichnet, der blauäugig annimmt, ihm könne nichts Schlimmes widerfahren. Gottvertrauen könnte man vielleicht sagen, es wird schon alles gut gehen. Und es hat den Anschein, als würden Adam und Rachel, ein junges Paar der jüdischen Gemeinde Hampstead Garden Suburb, tatsächlich ihr Leben so gestalten, wie sie und ihre Familien es Monate, wenn nicht bereits Jahre im Voraus geplant haben. Sie sind frisch verlobt und stecken gerade mitten in den Hochzeitsvorbereitungen, als Rachels unkonventionelle Cousine aus Amerika anreist und durch die Familie fegt wie ein Wirbelsturm. Im Gegensatz zu Rachel, die das Geordnete und Vorhersehbare in ihrem Leben liebt, ist Ellie chaotisch und durch ihre Freizügigkeit bei vielen in der Gemeinde nicht gut angesehen.

Was ihr Äußeres anging, unterschied sie sich ebenso deutlich von ihrer Cousine. Rachel strotzte geradezu vor Gesundheit. Ihre Haut war rosig, ihre glatten dunklen Haare schimmerten, und auf ihren gepflegten Fingernägeln glänzte Nagellack von Chanel. Ellie hingegen hatte vor der Synagoge ziemlich ausgebrannt ausgesehen, wie er fand, obwohl sie erst zweiundzwanzig war.Ihm waren ihre abgekauten Nägel und die entzündeten Nagelhäutchen aufgefallen, die tiefen Augenringe.

Ellie ist in schwierigen Verhältnissen aufgewachsen. Als sie acht Jahre alt ist, wird ihre Mutter Jackie bei einem Bombenattentat in Tel Aviv getötet, ihr Vater Boaz zieht sich völlig in sich selbst zurück und begibt sich, als Ellie sechzehn ist, auf eine lange Reise durch die Welt. Ellies Welt hingegen beginnt aus dem Gleichgewicht zu geraten. Sie nimmt Drogen, hat Affären mit wesentlich älteren Männern, lässt sich von ihnen aushalten und dreht einen erotischen Film, der sie letztlich ihr Studium an der Universität kostet. Trotz aller Interventionen ihrer liebenden Verwandten aus London gerät Ellie auf das, was man so gemeinhin auch die schiefe Bahn nennt.

An Jom Kippur, einem der höchsten jüdischen Feiertage, ist Ellie plötzlich wieder in London. Und mit dieser Ankunft beginnt für Adam vermutlich die härteste Probe seines bisher so vorhersehbaren Lebens. Durch Ellie wird ihm plötzlich bewusst, dass es noch mehr im Leben gibt als sich stetig aneinanderreihende Familienfeste und starre Traditionen. Mit einem Mal fühlt er sich gefangen, gezwängt in ein Leben, das ihm viel zu eng erscheint, um darin zu atmen. Er verliebt sich Hals über Kopf in die Cousine seiner Frau und ist beinahe bereit, sein bisheriges Leben auf einen Schlag für sie zu beenden.

Oberflächlich betrachtet ist ,Die Arglosen‘ eine gescheiterte Liebesgeschichte, eine Geschichte über das Aufbegehren eines Mannes, der sich, besonders nach der Hochzeit, in einem Leben wiederfindet, das er sich so ganz anders vorgestellt hat. Vor einer Entscheidung stehend, die alles verändern kann. Gräbt man aber tiefer, steckt jede Menge jüdisches Leben und jüdischer Witz in diesem Buch.

Als Dan London erstmals seine Freundin Willa zu den Jaffas zum Sabbatmahl mitgebracht hatte, hatte Willa ihren Wunsch bekundet, zum Judentum zu konvertieren, und gefragt, was sie dafür alles lernen müsse. Lawrence hatte gescherzt: “Ach, da ist nicht wirklich viel dabei. Im Prinzip lässt sich jeder jüdische Feiertag so erklären: Man hat versucht uns umzubringen. Vergeblich. Lasst uns essen.”

Wir werden Zeuge einer jüdischen Gemeinde, die, anders als es im Christentum bisweilen üblich ist, eng zusammensteht wie eine riesige große Familie. Hilfsbereitschaft, Offenherzigkeit und Traditionsbewusstsein gehen Hand in Hand. Und das, was Adam als starres Korsett erlebt, wandelt sich am Ende, auch für ihn, in ein stabiles Fundament, aus bedingungsloser Einmischung wird bedingungslose Unterstützung.

Als Mittelmeervolk sind Juden von Haus aus gesellig und mitteilsam, und so ist bei ihnen genau wie bei Griechen, Italienern oder Türken eine Mahlzeit nur dann eine Mahlzeit, wenn man mit mindestens zwanzig Personen am Tisch sitzt, die einem viel bedeuten (oder mit denen man zumindest verwandt ist). Jaffa führte selbst für eine Jüdin ein ungewöhnlich offenes Haus. Sie nannte gleich mehrere sechzig Liter fassende Suppentöpfe ihr Eigen, und Rachel war in dem Glauben aufgewachsen, dass man Hühnchen nur im Sechserpack kaufen konnte.

Es versteht sich beinahe von selbst, dass Adam, schlussendlich, nach vielem Hin und Her und einem Seitensprung, an der Seite seiner Frau bleibt, während Ellie nach Amerika zurückkehrt. ,Die Arglosen‘ ist ein Buch voller liebenswerter Charaktere, das einen tiefen Einblick in die jüdische Mentalität gewährt. Am Ende allerdings steht man doch etwas ratlos vor dem (nahezu erwarteten) Happy-End und fragt sich, welchen Zweck diese Erfahrung für Adam nun hatte. Hat sie ihn reifen lassen? Hat sie ihn seiner Familie nähergebracht? Wohin sollte diese Geschichte gehen? Viele kleine(re) Erzählstränge ranken sich um Ellie, Rachel und Adam und doch ist man am Ende geneigt, ,Die Arglosen‘ für eine ganz nette Familien – und Liebesgeschichte zu halten, für eine Momentaufnahme. Viel mehr nicht.

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