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Nick Dybek – Der Himmel über Greene Harbor

Dybek

Nick Dybek ist ein amerikanischer Autor. Aufgewachsen in Kalamazoo, Michigan, hat er mit dem kommerziellen Fischfang zwar zunächst wenig zu tun, liest sich aber in das Thema ein, fest davon überzeugt, dass es diese Geschichte ist, die er erzählen muss. Mit seiner Kurzprosa gewann er bereits mehrere Preise. ,Der Himmel über Greene Harbor’ ist sein Debütroman (im Original: When Captain Flint Was Still A Good Man), erschienen im mare Verlag, ins Deutsche übersetzt von Frank Fingerhuth.

Viele von uns haben vermutlich in jungen Jahren Stevensons Schatzinsel gelesen. Ich bekam schon früh eine Ausgabe dieses klassischen Abenteuerromans in die Hände, doch es sollten noch so einige Jahre ins Land gehen, bis ich ihn tatsächlich las. Als Kind verschreckten mich doch die Schilderungen verstümmelter Finger und zahnloser Münder zu sehr und so landete Stevenson wieder im Regal. Nick Dybeks Ich-Erzähler hingegen, der 14-jährige Cal, ist völlig fasziniert von Stevensons Schatzinsel, insbesondere aber von Long John Silver, über den er seinen Vater immer wieder ausfragt. War er immer böse? Und wenn nicht, wie ist er böse geworden? Cal wächst mit seinen Eltern in dem kleinen Fischerdorf Loyalty Island auf. Das Leben der Menschen dort ist bestimmt vom Fischfang, der Fischfang sichert ihre Existenz. Über Generationen hinweg war es so, ein hartes, aber einfaches Leben.

Loyalty Island – das war der Gestank von Hering, Lackfarbe und fauligem Seetang an Anlegestellen und auf Stränden. Der Geruch von Kiefernadeln, die sich am Boden braun verfärbten. Das Rumpeln von Außenbordern, von Windböen und Eismaschinen, das Heulen hydraulischer Winschen. Es war graues Dämmerlicht, das morgens und abends kam und ging – wie Ebbe und Flut.

Auch Cal ist überzeugt, dass er eines Tages mit den anderen Fischern nach Alaska auslaufen wird, genau wie sein Vater. Der ist die Hälfte des Jahres auf See und sorgt für das Auskommen der Familie, wie die meisten anderen Väter auf Loyalty Island. Diese Überzeugung gerät jedoch ins Wanken, als John Gaunt, Eigentümer der Fischereiflotte und der zahlreichen Fanglizenzen stirbt und das gesamte Unternehmen seinem Sohn Richard vererbt. Richard war niemals Fischer, kurz nach seinem achtzehnten Geburtstag verließ er Loyalty Island, reiste durch Amerika, ließ sich treiben. Die Fischer befürchten nun, dass Richard das Unternehmen seines Vaters verkaufen und sie alle in den Ruin stürzen wird. Und zunächst sieht es so aus, als würde diese Befürchtung wahr werden. Kurz nachdem Richard bei einer Feier seinen Standpunkt mit einem Koffer voll stinkender Innereien mehr als deutlich gemacht hat, geht er an Bord der Laurentide, dem Fischerboot, auf dem auch Cals Vater ausläuft, – und stürzt ins Meer. So erzählt man.

Für jeden in Loyalty Island war sein Tod eine glückliche Tragödie. Sosehr Richard auch gehasst wurde – er war ein Gaunt. Es hatte niemals ein Loyalty Island im Bundesstaat Washington ohne die Gaunts gegeben. Jetzt war es so weit. Es war unmöglich, zu beschreiben, wie das auf den Kerl auf dem Barhocker neben einem wirkte oder auf die Frau, die hinter einem in der Schlange an der Supermarktkasse stand, oder auf den Jungen neben dir auf der Toilette, der in der Mittagspause heimlich eine Zigarette rauchte.

Richard Gaunt war nicht irgendwer, mit ihm steht und fällt das Schicksal von Loyalty Island und so ist es nicht verwunderlich, dass Cal und sein Freund Jamie, dessen Vater ebenfalls Fischer ist, hinter vorgehaltener Hand zu spekulieren beginnen, was mit Richard geschehen sein könnte. Hatte Cal doch einige verdächtige Gespräche zwischen seinem Vater und einigen befreundeten Fischern belauscht. Cals Mutter, die sich niemals so recht wohlfühlte auf Loyalty Island verschwindet in einer Nacht – und Nebelaktion nach Santa Cruz, sein Vater muss wieder nach Alaska auslaufen. So wird Cal bei den Norths einquartiert, bei Jamie und dessen Mutter. Tief enttäuscht von seinen Eltern versucht er, die neue Situation zu verkraften, immer wieder kehrt er in sein Elternhaus zurück und macht dort schließlich eine Entdeckung, die alles, was er zuvor glaubte, auf den Prüfstand stellt. Eine Entdeckung, die ihn in der Annahme bekräftigt, dass mit der Geschichte rund um Richard Gaunt etwas nicht stimmen kann.

Nick Dybek hat mit ‘Der Himmel über Greene Harbor‘ eine Geschichte geschaffen, die außerordentlich vielfältig ist und auf vierlei Art und Weise gelesen werden kann. Man kann diesen Roman wie einen seichten Krimi, aber auch wie eine Familiengeschichte, ja, eigentlich wie mehrere Familiengeschichten lesen. Im Zentrum stehen Vater-Sohn-Beziehungen, die sich auf Loyalty Island wohl in allen Familien schwieriger gestalten als anderswo. Die Väter sind die Hälfte des Jahres auf See und erscheinen ihren Söhnen mitunter wie fremde Helden, die in weiter Entfernung von zuhause das Überleben sichern. Viele Entwicklungen der Kinder wiederum entgehen den Vätern, die Lebensumstände entfremden und entfernen voneinander. So ist es bei Cal, bei Jamie und auch bei Richard Gaunt. Die eigenen Interessen stehen den Traditionen eines ganzen Dorfes gegenüber, nicht überall fügt sich eine Generation so mühelos an die nächste. Nicht zuletzt stellt sich auch die Frage: Unter welchen Umständen sind wir bereit, moralische Prinzipien, im wahrsten Sinne des Wortes, über Bord zu werfen? Zwar hatte ich anfangs Schwierigkeiten, mich in den Roman einzufinden, doch dann hat er mich gefesselt und geknebelt, an Deck einer Geschichte, die auf den Abgrund zusteuert. Fast war man dort, in diesem kleinen Fischerdorf, eine starke Brise um die Nase, um sich herum das Rauschen der Wellen, so bildhaft und poetisch beschreibt Dybek diesen Ort. Mit diesem Roman hat mare wieder einmal einen Volltreffer gelandet.

Die Dinge im Leben, auf die wir keinen Einfluss haben – auf den Ort unserer Geburt, die Schwächen, die wir an uns entdecken, oder auf die Personen, die sich in uns verlieben -, übertreffen die Dinge, die wir im Griff haben, um das Zehnfache. Aber wir leben Tag für Tag, Entscheidung für Entscheidung und Trost für Trost und vergessen dabei, dass wir in Wirklichkeit überhaupt keine Wahl hatten.

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