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Allen Frances – Normal

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Allen Frances ist ein, mittlerweile emeritierter, amerikanischer Professor für Psychiatrie und Verhaltensforschung. Er lehrte an der Duke University und gilt als einer der einflussreichsten Psychiater Amerikas. Er war als Co-Autor maßgeblich an der Entwicklung des DSM-III und DSM-IV beteiligt und veröffentlichte zahlreiche Artikel in Fachzeitschriften. Normal – Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen erschien kürzlich im Dumont Verlag, ins Deutsche übersetzt von Barbara Schaden und mit einem Nachwort von Geert Keil, Professor für Philosophische Anthropologie an der Humboldt-Universität Berlin.

Sind wir noch normal? Sorgen um geistige und körperliche Gesundheit sind dieser Zeit in nahezu überproportionalem Maße vorhanden. Wie ernähre ich mich richtig, wie werde ich glücklich und zufrieden, wie finde ich den passenden Partner, wie entrümple ich meine Wohnung, wie werde ich erfolgreich, kurzum – wie optimiere ich mich und mein Leben? Viele, denen das nicht gelingt, sind versucht, sich für unnormal zu halten. Für krank möglicherweise. Das DSM-V – das Diagnostic and Statistic Manual Of Mental Disorders in fünfter Ausführung – ein Klassifikationssystem psychischer Krankheiten, senkt nun die Hürde, einige psychische Krankheiten zu diagnostizieren, deutlich ab und pathologisiert normales Verhalten in unzulässiger und schädlicher Weise, sagt Allen Frances. Der müsste sich darum im Grunde nicht mehr scheren, praktiziert er doch seit einiger Zeit nicht mehr. Doch als erfahrener Psychiater und Wissenschaftler, der selbst an den Vorgängern des DSM-V mitgearbeitet hatte, sah er schon vor Veröffentlichung die Gefahren einer “diagnostischen Inflation“, wie er sie nennt. Eine Überdiagnostizierung derer, die eigentlich unter keiner psychischen Krankheit leiden und die Unterdiagnostizierung jener, die dringend Hilfe bräuchten. Diese Inflation sei schon nach dem DSM-IV deutlich zu spüren gewesen, insbesondere in Bezug auf einige spezielle Diagnosen, die sich plötzlich zu bizarren Modediagnosen auswuchsen, mit dem DSM-V nehme diese Inflation erst richtig Fahrt auf und hätte größtes Potential, sich gar zu einer Hyperinflation zu entwickeln.

Das erste Problem, mit dem uns Frances in dieser Streitschrift konfrontiert, ist die Frage, was normal ist. Was Normalität eigentlich bedeutet. Und wie unklar sie definiert ist. Schlägt man im Wörterbuch nach, wird man mit tautologischen Definitionen abgepeist. Normal ist, was der Norm entspricht und nicht unnormal ist. Unnormal hingegen ist, was nicht normal ist. Das eine wird aus definitorischer Verlegenheit mit dem anderen erklärt, eine Rechnung, die nicht aufgehen kann, wenn wir nach einer exakten Bedeutung des Wortes suchen. Frances gibt uns nun zunächst einen Überblick über verschiedene wissenschaftliche Disziplinen und inwieweit sie dazu geeignet sind, uns in der Frage nach Normalität eine nützliche Antwort zu geben. So auch die Soziologie.

Die Gepflogenheiten der Menschen rund um den Globus weichen viel zu weit voneinander ab, als dass sich ohne Weiteres sagen ließe, was eine ihnen alle gemeinsame Normalität sein könnte. (…)
Vor zweihundert Jahren lag das normale Heiratsalter weltweit (und liegt mancherorts auch heute noch) irgendwo in der Pubertät, was in unserer gegenwärtigen Gesellschaft als kriminell gilt. Bei der außerordentlich gestiegenen Lebenserwartung heutzutage ist es normal, in einem Alter zu heiraten, das der Mensch noch vor Kurzem oft gar nicht erlebte. Kulturelle Universalien sind Ausnahmen: Es gibt nur wenige felsenharte Tabus, wie zum Beispiel Mord innerhalb der Sippe, Inzest, Verstöße gegen bestimmte Familienstrukturen. Kulturen unterscheiden sich nicht zuletzt deshalb so radikal in ihrer Auffassung von Normalität, weil sie sich sehr unterschiedliche Überlebensstrategien zurechtlegen mussten.

Normalität ist also nicht messbar oder definierbar, kulturell sehr unterschiedlich und vorallendingen mithin auch Wandlungen unterworfen. Vieles, was vor hundert Jahren noch als völlig normal und gewöhnlich galt, fänden wir heute bestenfalls eigenartig und sonderbar. Dieses Problem im Hinterkopf begreifen wir, weshalb psychiatrische Diagnostik sehr fehleranfällig ist. Zwar gibt es Kriterien für jede psychische Störung, doch ein Großteil fußt immer auf subjektiver Wahrnehmung, nicht auf exakten Messungen. Die Wissenschaft ist noch immer weit entfernt davon, die Funktionsweise des Gehirns in seiner Gesamtheit zu verstehen und so mangelt es der Psychiatrie an den recht verlässlichen Testverfahren anderer medizinischer Bereiche. Das ist freilich nicht für Fälle relevant, die in ihrer Ausprägung so deutlich und exemplarisch sind, dass selbst ein Laie sie diagnostizieren könnte, hier geht es um die Grauzonen, um die Empfindensmuster und Probleme, die auf der Grenze zur Normalität liegen.

Frances gibt uns einen kurzen Abriss über die Geschichte der Psychiatrie und der Behandlung psychisch Kranker, sowie über vergangene “Modediagnosen”, die zu einem rasanten Anstieg der betroffenen Patienten geführt haben. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war beispielsweise die Neurasthenie schwer in Mode, eine ziemlich diffuse “Nervenschwäche”, die sowohl psychische als auch somatische Symptome umfasste und, mit ein bisschen Glück, auf nahezu jeden etwas sensibleren Menschen anwendbar war, vergleichbar vielleicht mit dem heutigen Burn-Out-Syndrom. Viele Künstler trugen dieses Etikett, Robert Musil beispielsweise. Aber auch Franz Kafka hätte man vermutlich ohne viel Aufhebens die Neurasthenie diagnostiziert. Zum damaligen Zeitpunkt war die Neurasthenie ein sofortiger Freistellungsgrund von gegenwärtiger Beschäftigung, einigen sensiblen Künstlerseelen dürfte das auch als Vorteil erschienen sein. Bereits das DSM-IV, an dem Frances mitarbeitete, ebnete den Weg für einige “Modediagnosen” der Gegenwart, was er in seinem Buch mehrfach anprangert, aber auch ehrlich bedauert. Frances sieht seine eigene Verantwortung, was ihn vermutlich von vielen anderen Beteiligten unterscheidet.

“Modediagnosen” der Gegenwart sind ohne Zweifel AD(H)S, die bipolare Störung bei Kindern (jedenfalls in den USA, inwiefern das in Deutschland tatsächlich so relevant ist, vermag ich nicht zu beurteilen) und auch Autismus – oder das abgeschwächte Asperger-Syndrom – hat rasant aufgeholt und sich zu einer Diagnose entwickelt, die überdurchschnittlich häufig gestellt wird. Nicht nur die falsche Diagnostizierung ist ein Problem, auch die jeweiligen Behandlungskonzepte. Häufig werden bereits Kinder mit starken Psychopharmaka behandelt, müssen gesundheitsgefährdende Nebenwirkungen in Kauf nehmen, ohne, dass sie überhaupt von einer psychischen Störung betroffen sind. Während die Zahlen psychisch Kranker in Statistiken immer weiter explodieren und den Eindruck erwecken, jeder von uns hätte doch eigentlich eine (womöglich unerkannte) psychische Erkrankung, sagt Allen Frances deutlich: Wir sind nicht kränker als noch vor hundert Jahren, wir verschieben bloß die Grenzen dessen, was normal ist, immer weiter in Richtung Krankheit.

Nun fragt man sich natürlich unweigerlich: Cui bono? Wem nützt das? Den Psychiatern? Den Patienten? In Amerika profitiert die Pharmaindustrie zu großen Teilen von herabgesetzten Hürden psychiatrischer Diagnostik und neu eingeführten Diagnosen. Anders als in Europa ist es den Pharmakonzernen in den USA erlaubt, Direktwerbung beim Kunden zu machen. Darüber hinaus wird ein verschwindend geringer Teil der im Umlauf befindlichen Psychopharmaka von ausgebildeten Psychiatern verschrieben. Überwiegend sind es Hausärzte, die in rekordverdächtiger Geschwindigkeit Diagnosen stellen (nur dann ist es ihnen erlaubt, ihre Leistung bei der Kasse abzurechnen!) und teilweise Medikamente wie Neuroleptika verschreiben, die im Regelfall eigentlich nur psychotischen oder stark bipolaren Patienten vorbehalten sind. Da kann es schonmal passieren, dass man nach 10 Minuten Gespräch mit einer bipolaren Störung oder klinischen Depression aus dem Behandlungszimmer geht, ohne dass besondere Begleitumstände, wie z.B. der Tod eines nahen Angehörigen einbezogen worden wären.

Frances aber beklagt nicht nur den Ist-Zustand, er präsentiert auch eine Agenda an Handlungsmöglichkeiten, diesem Trend entgegenzuwirken. Dazu gehört unter anderem auch, der APA (American Psychiatric Association) den Vorsitz über die Arbeit am DSM zu entziehen und an ein Gremium abzugeben, das unabhängig arbeitet und in keinerlei Verbindung zu Pharmakonzernen oder Lobbygruppen steht. Allen Frances hat ein hochspannendes, ein brisantes und mutiges Buch geschrieben, das ihm innerhalb seiner Zunft sicher nicht nur Freunde einbringen wird. Er stößt wichtige Fragen an, die auch außerhalb der Psychiatrie von großer Bedeutung sind – die Verflechtung von Politik und Wirtschaft beispielsweise, die auch in anderen Bereichen verheerende Ergebnisse zeitigt -, er ermuntert die Menschen zu mehr Selbstverantwortlichkeit, seine Kollegen zu mehr Bedachtheit. Es gehört zu den wichtigen Errungenschaften psychiatrischer Forschung, dass viele psychische Krankheiten heute als gut behandelbar gelten. Vielen von ihnen haftet nicht mehr das Stigma des Irren und Verrückten an, das Thema ‘Psychische Gesundheit’ ist in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Jeden kann es treffen. Grundsätzlich, sagt Frances, trifft es aber wenige. Wir sollten viel mehr Vertrauen haben in die Zeit und die natürliche Widerstandsfähigkeit (“Resilienz”) des Menschen, bevor wir mit Kanonen auf Spatzen, mit starker Medikation und harten Diagnosen auf Alltagsprobleme schießen.

Allen Frances’ Buch bei ttt – titel thesen temperamente.

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