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Emmanuel Carrère – Limonow

Emmanuel Carrère ist ein französischer Schriftsteller, Drehbuchautor und Filmproduzent. Carrère ist der Sohn der Historikerin Hélène Carrère d’Encausse, die sich auf die Geschichte Russlands und der Sowjetunion spezialisiert hat. Carrère hat bereits einige Bücher veröffentlicht – unter anderem über Werner Herzog und Philipp K.Dick – und war 2010 Jurymitglied bei den Fimfestspielen in Cannes. Seine Geschichte La Classe de neige (“Schneetreiben”), die einen väterlichen Mörder zum Protagonisten macht, wurde 1998 verfilmt.

Mutmaßlich wird den wenigsten in Westeuropa Eduard Limonow (der eigentlich Eduard Wenjaminowitsch Sawenko heißt) etwas sagen. Dem einen oder anderen fällt möglicherweise sein provokanter und autobiographischer Roman Fuck off, America ein, der mittlerweile der einzige ist, den man noch für annehmbares Geld und ohne größere Schwierigkeiten erwerben kann. Limonow, dessen erdachter Name eine Zusammensetzung aus dem russischen Wort für Zitrone, limon und Handgranate, limonka ist, ist ein Provokateur. Vielleicht sowas wie ein russischer Salinger, ein Ginsberg oder ein Kerouac, bloß, dass er sich diesen Kategorisierungen vermutlich immer verweigern würde.

Geboren wurde er 1942 in einem kleinen ukrainischen Dorf namens Dserschinsk. Sein Vater war ein Offizier, seine Mutter Hausfrau. Es gab nichts, was ihn von irgendeinem anderen russischen Jungen der Provinz in diesen Zeiten unterschieden hätte. Er bewunderte seinen Vater und wünschte sich, selbst irgendwann ein heldenhafter Mann des Militärs zu werden, später sollte er sich immer wieder einen Scherz daraus machen, zu erzählen, sein Vater habe beim KGB gearbeitet. Doch es sollte mit Eduard deutlich anders kommen. Schon in jungen Jahren wurde er Dichter und begann, sich in den entsprechenden Kreisen zu bewegen. Das jedoch niemals, ohne eine gewisse Arroganz. Mitte der 60er-Jahre zieht er nach Moskau, weil er der festen Überzeugung ist, all die Dissidenten und Lyriker und zweitklassiken Maler Charkows – der Stadt, in die er mit seinen Eltern gezogen war – überholt zu haben.

Es war die Zeit, zu der Alexander Solschenizyn Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch veröffentlichte und damit einer breiten Öffentlichkeit Einblick in eine Zeit des Stalinismus gab, über die man lange Zeit nicht gesprochen hatte, die man nicht wahrhaben wollte. Es erzählte, lakonisch und völlig frei von literarischen Schnörkeln, den Tagesablauf des Iwan Denissowitsch in einem sowjetischen Gulag.  Wie Carrère schreibt, gab es mehrere Seiten des Moskauer Literaturbetriebs.

Da gab es die Offiziellen des Literaturbetriebs. Die Seeleningenieure, wie Stalin die Schriftsteller einmal genannt hatte. Die linientreuen Realsozialisten. Die Kohorte der Scholochows, Fadejews und Simonows mit ihren Wohnungen, Datschas, Auslandsreisen, ihren Zugängen zu Shops für Parteibonzen, mit ihren gesammelten Werken in Hardcoverausgaben, Millionenauflagen und Auszeichnungen mit dem Leninpreis. Aber selbst diese Privilegierten konnten nicht ein Huhn schlachten und danach seine Eier haben wollen. Was sie an Komfort und Sicherheit gewannen, verloren sie an Selbstachtung. In der heroischen Gründerzeit des Sozialismus mochten sie noch an das geglaubt haben, was sie schrieben, und stolz gewesen sein auf das, was sie waren, doch zu Zeiten Breschnews, während des lauen Sozialismus der Nomenklatura, konnte man sich solchen Illusionen nicht mehr hingeben. Sie wussten sehr wohl, dass sie einem verdorbenen Regime dienten und ihre Seele verkauft hatten – und dass es die anderen auch wussten. Solschenizyn, ihrer aller schlechtes Gewissen, bemerkte dazu: Einer der zerstörerischsten Aspekte des sowjetischen Systems war, dass man nicht ehrlich sein konnte, ohne ein Märtyrer zu werden.

Es gab aber auch den Moskauer Underground, in dem sich Limonow zuhause fühlte. In dem ein wahrer Künstler noch die Armut kannte, über die er schrieb, den Wahnsinn, die Sucht und all diese existentiell bedrohlichen Lebenswirklichkeiten, die einen das Leben erst kennenlernen lassen. Auch Limonow lebt in Armut, lässt sich von einer älteren Frau aushalten, die er nur mäßig attraktiv findet – ja, er wird sie sogar heiraten. Es wird zu einer beruhigenden Regelmäßigkeit in Eduards Leben, nach einigen Jahren der festen Überzeugung zu sein, er habe alle künstlerischen Kreise seines Umfelds bereits überflügelt und müsse sich nun auf die Suche nach Höherem begeben. Höheres meint er damals in New York zu finden. Damals war das in der Sowjetunion allerdings eine folgenschwere Entscheidung.

Für uns, die wir gehen und kommen und nach Belieben Flugzeuge nehmen, ist es schwer zu verstehen, dass die Vokabel “emigrieren”  für einen Bürger der Sowjetunion eine Reise ohne Wiederkehr bezeichnete. Es ist schwer für uns, diese zwei Worte zu begreifen, die einfach sind wie das Heben und Senken einer Axt: für immer. Ich spreche hier nicht von Überläufern, von Künstlern die Nurejew und Baryshnikov, die während einer Auslandstournee um politisches Asyl baten, denjenigen, von denen man im Westen sagte, sie hätten “die Freiheit gewählt”, während man sie in der Prawda als “Vaterlandsverräter” beschimpfte. Ich spreche von Leuten, die ganz legal emigrierten. Das war, auch wenn es schwierig blieb, in den siebziger Jahren möglich geworden; doch jeder, der einen solchen Ausreiseantrag stellte, wusste, dass er im Falle einer Bewilligung nie wieder würde zurückkehren können.

Und so reiste Eduard mit seiner Freundin Elena nach New York, in der festen Überzeugung, nie mehr in seine Heimat zurückzukehren. Dort wurde er zunächst in die höheren Kreise der Kultur und Kunst eingeführt, fand sich plötzlich auf Partys wieder, auf denen auch Truman Capote das ein oder andere Glas hob, doch nach kurzer Zeit stellte er fest, dass es schwerer war als er dachte, schriftstellerisch in einer Stadt wie New York Fuß zu fassen. Er sackte immer weiter ab, trank – selbst für einen Russen – gelegentlich ungewöhnlich viel und hatte mit Müh und Not eine Übersetzerstelle bei einer Zeitung ergattert, die für russische Immigranten schrieb. (oder eben Artikel aus amerikanischen Zeitschriften ins Russische übersetzte) In dieser Zeit, in erbärmlichen Absteigen und Hotels, zwischen Dealern, Huren und Zuhältern entstand Fuck off, America.

Doch die Schriftstellerei ist nicht alles, was Limonow umtreibt. Es ist auch die Politik. Er stellt sich – und das macht Carrère deutlich – immer auf Seiten der Minderheiten. Dabei ist es vollkommen egal, welcher politischen Gesinnung diese Minderheiten sind, ob rechts oder links, er hasst den Konformismus, er blickt trotz allem noch immer zu Stalin auf, er verehrt Trotzki für dessen Ansicht, ” per definitionem hätten die Sieger recht und die Besiegten unrecht und letztere gehörten auf den Abfallhaufen der Geschichte.” Vieles von dem, was sich in Limonows Kopf abspielt, ist nicht eben sympathisch zu nennen. Er wird noch viele Stationen in seinem Leben durchlaufen. Er wird als Butler bei einem Milliardär arbeiten, er wird dabei sein, als 1993 Putschisten versuchen, Jelzin abzusetzen, er wird die Nationalbolschewistische Partei mit Alexander Dugin aufbauen, die mehrmals wegen rassistischer Äußerungen und Fantasien einen großrussischen Reichs unter Beobachtung stand und schließlich 2005 verboten wurde.

Limonow auf einer Kundgebung der NBP

Er zog sich ins Altaigebirge zurück, um dort mit einigen Parteigenossen der Natur näher zu kommen und zu meditieren, bis er dort verhaftet und wegen terroristischer Umtriebe in das Lefortowo-Gefängnis überführt wurde. Im Jugoslawienkrieg kämpfte er an der Seite der Serben. Insgesamt ist Eduard Limonow nicht unbedingt eine streitbare, eher eine indiskutable Gestalt. Und dennoch geht von seinem Leben etwas derart Prosaisches aus und von seiner Person etwas, trotz aller Verirrungen doch irgendwie Aufrichtiges, dass ich Emmanuel Carrère in seiner Absicht, ein Buch über diesen Mann zu schreiben – den er mehrfach persönlich traf – nur völlig nachvollziehen.

Carrère schreibt nicht nur Limonows Geschichte. Er schreibt eine kleine Geschichte Russlands, über den Zusammenbruch der Sowjetunion, Glasnost und Perestroika, über Putschversuche, über die kläglichen Ansätze, einen westlich geprägten Markt in Russland einzuführen, über Putin und wie er letztlich an die Macht gelangte. Neben aller Verwunderung über Limonow, neben dem Fünkchen Faszination für ein Leben, das klingt, als sei es einem Buch entsprungen, lernt man auch noch ein wenig darüber, was ihn – und viele andere – möglicherweise genau so hat werden lassen. Man findet ihn danach mitnichten sympathischer! Aber man empfindet etwas anders.

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