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Martin Suter – Die Zeit, die Zeit

Martin Suter ist ein schweizerischer Schriftsteller. Er schloss eine Ausbildung zum Werbetexter ab und arbeitete auch in der Werbebranche, nebenbei jedoch schrieb er schon Artikel Für Geo und Drehbücher für Film & Fernsehen. Der literarische Durchbruch gelang ihm mit dem 1997 erschienenen Debütroman Small World, der sich mit der Alzheimererkrankung auseinandersetzt.

„Die Zeit ist die Ordnung des nicht zugleich Existierenden. Sie ist somit die allgemeine Ordnung der Veränderungen, in der nämlich nicht auf die bestimmte Art der Veränderungen gesehen wird.“

(Gottfried Wilhelm Leibniz)

Peter Taler ist ein Mann Anfang vierzig. Vor etwa einem Jahr hat er seine Freundin verloren. Vor seiner Haustür wurde sie von einem Unbekannten niedergeschossen. Seitdem hat er in ihrer gemeinsamen Wohnung nichts verändert. Er kocht noch immer dasselbe Nudelgericht zum Abendessen, er deckt den Tisch für zwei, er legt dieselbe Musik auf und steht stundenlang am Fenster, mit Blick auf das Nachbarhaus. Dort wohnt der alte Sonderling Albert Knupp, den alle für einen etwas senilen Verrückten halten, seit auch er seine Frau Martha verloren hat. Tagtäglich gräbt er den Garten um und nimmt Veränderungen am dortigen Pflanzenbestand vor.

Nach einiger Zeit des gegenseitigen Beobachtens kommen beide ins Gespräch. Knupp hat eine völlig absurde Theorie, die auf den ersten Blick so wahnwitzig wie unmöglich erscheint. Er möchte den Tag des elften Oktober neunzehnhunderteinundneunzig wiederherstellen, in all seinen Details. Damals hat er sechs Filme mit Bildern seines Hauses gefüllt, die er sich nun für die Wiederherstellung des damaligen Zustands zum Vorbild nimmt. Albert Knupp glaubt nicht an die Zeit. Zeit ist nur das, was wir modellhaft nutzen, um Veränderungen unserer Umwelt zu beschreiben. Wenn es diese Veränderungen nicht gegeben hat, so ist er überzeugt, ist auch keine Zeit vergangen. Am elften Oktober neunzehneinundneunzig lebte Knupps Frau. Und so will er sie wieder zum Leben erwecken.

Taler, der zunächst sehr skeptisch und auch eher geneigt ist, den alten Wirrkopf in seiner zeitlosen Welt zu belassen, wird von dem um Hilfe gebeten. Als Gegenleistung bietet er die Bilder eines Motorradfahrers, der vor dem Tod seiner Freundin vor dem Haus gesehen wurde. Taler steigert sich in die Vorstellung hinein, den Mörder seiner Freundin stellen und töten zu können und willigt so in das merkwürdige Zeitexperiment des Alten ein. Was folgt, sind Wochen und Monate der genauen Vermessung, des Fotografierens, des Recherchierens und der Anschaffung diverser Pflanzen, die zum damaligen Zeitpunkt im Garten Knupps und dessen Nachbarn gestanden haben.

Taler taucht so tief in die Welt des Zeitnihilisten ein, dass er bereit dazu ist, sein Konto leerzuräumen. In seiner Funktion als Buchhalter bei einem Unternehmen rechnet er die Kosten für die Pflanzen, zahlreiche Renovierungsarbeiten und Spezialanfertigungen über seine Firma ab. Hunderttausende Franken gehen für den Versuch drauf, einen einzigen Tag in all seinen Facetten zu rekonstruieren. Mit sehr überraschendem Ausgang, der an dieser Stelle natürlich nicht verraten werden soll.

Suter entwirft hier eine sehr absurde Szenerie. Allerdings ertappte ich mich beim Lesen mehrfach bei der Feststellung, dass auch ich schon ähnliche Gedanken hatte, wenn auch ohne den Wunsch, tote Angehörige wieder zum Leben zu erwecken. Ist Zeit nicht etwas von Menschen Gesteuertes? Würden jetzt alle ihre Uhren auf 16:30 stellen  – wäre es dann nicht auch sechzehn Uhr dreißig? Wer legt fest, dass eine Minute sechzig Sekunden sind? Und was würde passieren, wenn es keine Uhren mehr gäbe? Zeit ist in unserer Wahrnehmung und Erfahrung natürlich etwas sehr Elementares. Ohne die Vorstellung von Zeit gibt es keine Vergangenheit, keine Gegenwart und keine Zukunft. Ohne eine zeitlich abgrenzbare Vergangenheit fehlt uns ein bedeutender Baustein zur Identitätsbildung. Auch Gegenwart ist ein schwieriger Begriff, so es ihn überhaupt geben kann. Denn wenn ich in diesem Moment von Gegenwart spreche, ist diese Gegenwart im nächsten Augenblick schon Vergangenheit.

Der Autor spielt hier sehr geschickt mit einer Thematik, die uns völlig selbstverständlich erscheint. Über die wir uns, im Normalfall, keine Gedanken machen. Die Zeit ist eben da und sie vergeht auch. Sehen wir doch. Die Zeiger der Uhr wandern, also vergeht Zeit. Albert Knupp würde sagen, es findet lediglich eine Veränderung statt. Eine Veränderung des Lichts, eine Veränderung der Temperatur, eine Veränderung unseres Bewusstseins. Insofern fand ich diesen Roman so interessant wie irritierend! Eine seiner unbestreitbar größten Qualitäten ist das Spiel mit dem Selbstverständlichen, das es in der Literatur viel öfter geben sollte. Dafür ist sie doch da – lasst die Literatur Vorstellungen aufbrechen und ins Wanken bringen! Über das Ende kann man geteilter Meinung sein, aber meines Erachtens ist Suters und auch Knupps Experiment gelungen!

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